„Ja. Sie sind im November 1580 geboren.“
„Sie sind jetzt fast vierzehn“, sagte Karl von Hutten, der zu ihnen trat. „Das sollte man wirklich nicht vergessen. Ich weiß, was du sagen willst, Arkana. Daß sie trotzdem noch schutzbedürftig sind. Aber du irrst dich.“
„Ja, sie sind den Kinderschuhen längst entwachsen“, pflichtete der Alte ihm bei. „Sie sind viel erwachsener, als du denkst.“
Philip und Hasard blickten stumm auf das Wasser der Bucht und die vor Anker liegenden Schiffe. Das Bild ihres Vaters tauchte vor ihrem geistigen Auge auf, und noch einmal schienen sie all das nachzuvollziehen, was sie an Bord der „Isabella VIII.“ und der „Isabella IX.“ erlebt hatten.
Diese Erfahrungen und Abenteuer, Entbehrungen und Strapazen hatten sie vieles gelehrt, sie waren die beste Schule des Lebens für sie gewesen. Sie waren reifer und vielleicht sogar auch schon männlicher als andere Jungen ihres Alters. Sie konnten kämpfen, kannten sich hervorragend in der Seemannschaft aus und hatten beide einen bereits fest und vollendet geformten Charakter. Sie wußten, daß es im Leben nicht nur Erfolge und Höhepunkte gab. Sie hatten es gelernt, Nackenhiebe und Tiefschläge einzustecken. Mit allem mußte man fertig werden, es gab keinen anderen Weg.
„Himmel, warum mußte das passieren?“ fragte Hasard leise.
„Er hat immer Glück gehabt, aber einmal im Leben muß der Mensch auch Pech haben“, flüsterte Philip. „Das ist ein Gesetz der Natur, oder? Ich meine, es ist noch gut, daß kein anderer getroffen worden ist, tödlich. Stell dir mal vor, Ben wäre tot.“
„Ich mag nicht daran denken.“
„Oder Dan.“
„Hör auf“, sagte Hasard und schluckte einen imaginären Kloß hinunter, der ihm in der Kehle steckte. „Mach es nicht noch schlimmer. Aber der Kampf ist noch nicht zu Ende.“
„Ja, die Spanier müssen noch besiegt werden“, sagte Philip. „Sie haben an allem schuld.“
„Vor allem Don Antonio de Quintanilla.“
„Wenn ich den jetzt vor mir hätte“, flüsterte Philip. „Weißt du, was ich mit ihm tun würde?“
„Das gleiche wie ich.“ Hasard holte tief Luft. „Schluß jetzt mit dem Trübsalblasen. Das führt zu nichts. Gehen wir zu den anderen zurück.“
Sie drehten sich um und gesellten sich wieder zu der Gruppe. Karl von Hutten erzählte gerade, wie sich der Angriff der Spanier auf die Insel abgespielt hatte. Sein Bericht wurde mit einigen Äußerungen der Zuhörer quittiert, und der alte O’Flynn sprach Arkana, Ramsgate, Pater David und ihm sogar ein dickes Lob für die erzielten Erfolge aus.
Stunden später, am hellen Morgen dieses neuen Tages, sichteten die Ausgucks der Schlangen-Insel Mastspitzen an der westlichen Kimm. Für kurze Zeit bestand die Befürchtung, es könne sich um eine Nachhut der Spanier handeln, dann aber erkannten die Späher, daß es sich um die Schiffe der Insel handelte – um die „Isabella IX.“, den Schwarzen Segler, die „Caribian Queen“ und – als letztes Schiff – die „Pommern“. Sie segelten am Wind und steuerten auf den Felsendom und das Tor zur Hölle zu, dann liefen sie ein und gingen vor Anker.
Ernst blickten die am Ufer stehenden Frauen und Männer zu ihnen, und Hasard junior sagte: „Eins ist sicher: das letzte Wort mit den Dons ist noch nicht gesprochen …“
ENDE
Der Sonnenaufgang war wie eine lautlose Explosion von gigantischen Ausmaßen.
In der östlichen Bucht von Grand Turk erlebten Seesoldaten und Seeleute das grandiose Naturschauspiel mit weit aufgerissenen Augen. Doch es war alles andere als Faszination, die sie gepackt hatte. Eher Beklommenheit und fast Entsetzen wurden in ihnen wach, von der Erinnerung geschürt.
Anfänglich nur als glühender Punkt erkennbar, brach der Feuerball der aufgehenden Sonne sehr rasch aus der Kimm hervor. Eine blutrote Urgewalt, die sich mit alles verzehrender Gewalt aus den Fesseln der Nacht befreite und ihr flammendes Licht rasend schnell über die See ausgoß. Die Glut breitete sich mehr und mehr auf der so friedlich scheinenden Weite der Karibischen See aus und erfaßte gleich darauf auch die Bucht, in der die drei Kriegsschiffe vor Anker lagen.
Jene Männer, die auf den oberen Decks genächtigt hatten, waren schon bei der ersten Helligkeit des 27. Juli Anno 1594 wach geworden. Als müßten sie sich erneut vor einem Feuersturm schützen, hoben etliche von ihnen die Hände – abwehrend gegen die grelle Sonnenglut.
Unruhig war ihr Schlaf gewesen, und jähe Angstgefühle packten sie beim Anblick der feurigen Morgenröte. Erst nach und nach, mit zunehmender Wachheit, vermochten sie das Grauen abzuschütteln, das sich wie eine peinigende Tortur in ihrem Unterbewußtsein festgekrallt hatte. Jenes Grauen, das aus dem Feuersturm herrührte, den sie nur mit knapper Not überlebt hatten.
Und wie zum Hohn lastete beißender Brandgeruch in der Bucht, haftete an den Schiffen wie der Gestank von Wundfäule und ließ sich selbst durch den auflandigen Wind nicht fortwischen. Lediglich die Schaluppe – als einzige von ursprünglich sechs einmastigen Aufklärern übriggeblieben – trug geringere Spuren des Infernos, in das Capitán Cuberas Kampfverband geraten war.
Ja, die so unbedeutend und menschenleer scheinende Schlangen-Insel hatte sich als feuerspeiende Festung entpuppt, an der sie sich samt und sonders die Zähne ausgebissen hatten. Schon beim ersten Erkundungsversuch war das Unheil über den Verband hereingebrochen.
In jenem Felsendom, der die natürliche Einfahrt zur Inselbucht bildete, war die Kriegsgaleone „San Gabriel“ in Stücke gerissen worden. Heimtückische Pulverladungen hatten das bewirkt, und der Schreck war ihnen allen in die Knochen gefahren.
Dann, als sie mit allen Rohren auf die Insel gefeuert hatten, war doch kein nennenswerter Erfolg zu erkennen gewesen. Statt dessen waren die getarnten Batterien des Felseneilands plötzlich in Aktion getreten, als sich der Verband zu nahe herangewagt hatte. Brand- und Pulverpfeile der Verteidiger hatten ein übriges getan, und so war es ihnen gelungen, eine weitere Kriegskaravelle zu versenken.
Und schließlich das mißglückte Landeunternehmen in den beiden südlichen Buchten – die schlimmste und schmerzlichste Erinnerung für die Überlebenden auf den drei Kriegsschiffen. Fassungslos hatten sie erkennen müssen, daß sie gegen Indianer kämpften, die mit geradezu teuflischem Geschick die Waffen des weißen Mannes beherrschten.
Unter Wasser gespannte Ketten hatten die als Landungsboote eingesetzten Jollen und Schaluppen aufgehalten. Die Verteidiger hatten Wurfbomben eingesetzt, die dem Verband schwere Verluste zugefügt hatten. Schließlich waren von der nächtlichen See her zwei unbekannte Schiffe aufgetaucht, die eine weitere Kriegskaravelle versenkt hatten.
Angesichts der hohen Verluste und der schweren Schäden, die auf den verbliebenen Schiffen des Verbandes entstanden waren, hatte Capitán Cubera den Befehl zum Rückzug gegeben. Wie getretene Hunde hatten sie sich hierher, in die östliche Bucht von Grand Turk verkrochen, um ihre Wunden zu lecken.
Welche nächste Entscheidung würde der Capitán treffen? Es gab nur wenige Männer, die nicht darauf hofften, daß er sich für den endgültigen Rückzug entschied. Während sich das morgendliche Sonnenlicht nach und nach vom feurigen Rot in strahlende Helligkeit wandelte, waren die meisten Männer von der Sehnsucht nach Havanna erfüllt.
Dort, in der großen Hafenstadt, die ihr Zuhause in der Neuen Welt war, konnten sie sich von dem Grauen erholen. Dort gab es alles, wonach ihr Sinn stand – die Behaglichkeit der kleinen Tabernas, den funkelnden Wein aus der fernen Heimat und die vielen Mädchen mit ihrer freundlichen Bereitwilligkeit.
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