Dank der Aufmerksamkeit der Zwillinge vermochten sie auf weiteste Nachtsicht die Fühlung mit dem Verband zu halten. Zügig verlief die Fahrt, die Schiffe lagen hoch am Wind und hielten den östlichen Kurs. Old O’Flynn und Renke Eggens stellten kurze Berechnungen an und gelangten zu dem Schluß, daß sie in den ersten Morgenstunden die Turks-Inseln erreichen mußten.
Nach Mitternacht, es war jetzt der 27. Juli, war das Ziel tatsächlich erreicht. Der Verband rundete Grand Turk, drehte bei und ging in einer Bucht der Ostseite vor Anker. Die Besatzungen der „Empress“ und der „Wappen“ beobachteten es aus angemessener Entfernung.
„So“, sagte Old O’Flynn und kratzte sich am Kinn. „Da liegen sie und lecken sich. Damit sind sie eine Weile beschäftigt, vielleicht den ganzen Tag über.“
„Greifen wir an?“ fragte Martin Correa.
„Nein, mir ist inzwischen etwas Besseres eingefallen. Wir segeln zurück zur Schlangen-Insel.“
„Aber – warum haben wir sie dann bis hierher verfolgt?“
„Um ihren Ankerplatz zu orten, du Barsch“, erwiderte der Alte ungehalten. „Ist das nicht klar? Meinst du, ich will sie bei Tageslicht überall suchen?“
„Nein“, sagte Martin. „Und ich bin ja auch nicht blöd. Ich meine nur: Wir sollten nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen.“
„Tun wir auch nicht. Wir klüsen zur Schlangen-Insel und sehen nach, ob unsere Freunde inzwischen mit den Schiffen eingetroffen sind. Daß sie längst da sein müssen, ist dir auch noch nicht aufgegangen, was?“
Martin seufzte und zuckte mit den Schultern. „Ich bin als Junge mal hingefallen, deswegen bin ich wohl ein bißchen zurückgeblieben.“
„Ich an eurer Stelle würde noch ein bißchen lauter brüllen“, sagte Nils. „Damit die Dons uns hören und Bescheid wissen, daß wir hier sind.“
„Los jetzt“, sagte der Alte drängend. „Keine Zeit mit Quatschen verlieren. Wir hauen ab.“
Kurze Zeit darauf lagen sie wieder auf Gegenkurs und segelten zurück. Der Wind wehte nach wie vor aus Nordosten, und sie brauchten für die Rückkehr etwas weniger Zeit als für die Fahrt nach Grand Turk.
In den ersten trüben Schleiern der Morgendämmerung trafen sie ein, liefen durch den Felsendom in die große Bucht ein und gingen vor Anker. Wieder hatte der Alte sich nicht geirrt: Die „Tortuga“ von Jerry Reeves und die Schebecke Don Juan de Alcazars waren inzwischen eingetroffen. An Land gab es einen kleinen Menschenauflauf, alle waren zur Stelle: Arkana, Karl von Hutten, Ramsgate, Pater David und die meisten der Krieger und Kriegerinnen sowie der Werftarbeiter. Nur die Männer, die gerade Wachdienst hatten, waren auf ihren Ausguckposten geblieben.
Die Besatzungen der „Tortuga“ und der Schebecke waren komplett an Land gegangen. Old O’Flynn und Renke Eggens ließen ebenfalls die Beiboote ausschwenken und abfieren, dann pullten sie mit ihren Leuten an Land.
Aber es gab keinen Jubel und keine Begeisterung. Die an Land wartenden Kameraden zeigten betretene Mienen. Irgend etwas schien der Freude über den ersten Erfolg gegen die Spanier einen Dämpfer aufgesetzt zu haben.
„Lange Gesichter?“ sagte Old O’Flynn betroffen. „Hölle, was ist denn jetzt passiert?“
Als die Boote landeten, stieg er als erster aus und marschierte auf die Wartenden zu. Seine Männer und die Zwillinge folgten ihm, auch Plymmie tobte über den Strand. Renkes Crew erschien komplett, und alle vernahmen, wie Jerry Reeves gerade sagte: „Es hat keinen Zweck gehabt, nach ihm zu suchen. Alles sinnlos.“
„Von wem ist die Rede?“ fragte Old O’Flynn.
Arkana wandte sich langsam zu ihm um. Ihr Blick fiel auf die Zwillinge, dann sah sie wieder dem Alten in das verkniffene, runzlige Gesicht. „Das erklären wir dir gleich noch. Sonst scheint alles gut verlaufen zu sein. Welche Meldungen habt ihr?“
„Die Dons haben den Schwanz eingekniffen und sich in eine Bucht am Ostufer von Grand Turk zurückgezogen“, erwiderte der Alte. „Aber jetzt mal raus mit der Sprache. Was wollt ihr uns verheimlichen?“
Die Zwillinge waren rechts und links neben ihm, und Philip junior sagte: „Arkana, es ist deine Pflicht, uns zu informieren. Was ist los? Hat es – Tote gegeben?“
„Nein. Nur Ben Brighton hat eine Kopfverletzung.“
„Und unser Vater?“ fragte Hasard junior. „Ist er wohlauf?“
Sie biß sich auf die Unterlippe, aber dann sah sie ihn doch voll an und antwortete: „Er ist im Gefecht außenbords geflogen und wird vermißt.“
„Vermißt?“ murmelte Philip entsetzt.
Sein Bruder sprach kein Wort ehr. Beide waren sie wie versteinert und blickten starr geradeaus. Sie bissen die Zähne zusammen. Die Nachricht traf sie wie ein Hieb, aber sie versuchten, sie zu verarbeiten. Der Seewolf vermißt – das bedeutete Schlimmes. Tot – sonst wäre er längst wieder aufgetaucht. War er ertrunken? Allein die Vorstellung war entsetzlich. Aber Philip und Hasard zeigte keine Tränen.
Arkana trat auf sie zu. „Ihr wißt ja nicht, wie leid mir das tut“, sagte sie. „Aber ihr werdet sehen, es wird alles wieder gut. Er hat sich irgendwo festklammern können, hat sich gerettet und befindet sich jetzt vielleicht schon auf dem Weg zu uns.“
Sie wollte nach Hasards Arm greifen, aber der Junge wandte sich fast kalt von ihr ab.
Philip sah sie an und erklärte: „Du brauchst so was nicht zu sagen, Arkana. Wir werden auch so damit fertig. Wir sind keine Kinder mehr. Und wir wollen keinen Trost, verstehst du?“
„Ja. In Ordnung.“
„Das sehen wir ein“, sagte Reeves. „Aber ihr sollt wissen, daß wir genauso empfinden wie ihr. Euer Schmerz ist auch unser Schmerz.“
„Das brauchst du nicht hervorzuheben“, sagte Hasard leise, aber klar und deutlich. „Das wissen wir selber. Aber wo ist die ‚Isabella‘?“
„Sie muß bald eintreffen“, erwiderte Reeves. „Sie segelt jetzt unter dem Kommando von Dan, weil Ben im Moment nicht einsatzfähig ist.“
„Und die anderen?“ fragte Philip. „Das Schwarze Schiff, die ‚Queen‘ und die ‚Pommern‘? Was ist mit ihnen?“
„Sie kehren ebenfalls zurück“, entgegnete Reeves, dann berichtete er hoch einmal, was er bereits den Verteidigern der Insel geschildert hatte: wie sich der erste Kampf gegen den Kriegsverband abgespielt hatte, was sich an Bord der einzelnen Schiffe ereignet hatte und wieso die Schiffe der Schlangen-Insel den Verband im Nebel zunächst nicht gesichtet hatten, wie sie dann aber umgekehrt waren und ihn verfolgt hatten.
„Und wo sind Arne und Jörgen?“ wollte Hasard junior mit einem Blick zu Don Juan wissen. Absichtlich stellte er die Frage auf spanisch.
„Sie sind nach Havanna zurückgekehrt“, erwiderte der Spanier ernst. „Das erschien uns klüger, weil Arne dort um jeden Preis die Stellung des Handelshauses halten soll. Es ist eine Strategisch wichtige Position, und viel zu leicht hätte es passieren können, daß die Männer an Bord der Kriegsschiffe Arne und Jörgen erkannt hätten. Wir dürfen ja auch nicht vergessen, daß sich Don Antonio an Bord der ‚San José‘ befindet.“
„Der Teufel soll ihn holen“, sagte Old O’Flynn. „Hoffentlich ist er schon verreckt, von einem Pfeil oder einem Splitter getroffen. Verdammt und zugenäht, was tun wir jetzt? Wo sollen wir nach Hasard suchen?“
Philip hörte schon nicht mehr hin, er wandte sich ab und trat mit Hasard an den Rand des Ufers. Alle sahen ihnen nach, und Arkana wollte ihnen nacheilen, wurde aber von dem alten O’Flynn zurückgehalten.
„Laß sie in Ruhe“, sagte er leise. „Sie wollen jetzt allein sein. Sie müssen das schlucken, aber sie schaffen es, das schwöre ich dir.“
„Aber sie tun mir trotzdem leid“, sagte Arkana traurig.
„Klar. Aber vergiß eins nicht.“
„Daß sie keine Kinder mehr sind?“
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