Davon war er schon jetzt fest überzeugt.
Am 29. Mai, als die Seewölfe mit ihren beiden Jollen Damiette erreicht hatten, spielte sich auf der Marsplattform der gesunkenen „Zeland“ der letzte Akt in dem Drama der Schiffbrüchigen ab.
Reuter und Pravemann hockten hungrigen Wölfen gleich nebeneinander auf ihren Plätzen, die sie seit Stunden nicht mehr verlassen hatten. Sie kauerten einfach nur da und rührten sich nicht. Jack Finnegan und Paddy Rogers versuchten immer wieder, eine Unterhaltung zu beginnen, doch selbst untereinander wußten sie nicht mehr, was sie sich sagen sollten.
Über Jan Martens Tod war seit der letzten Nacht kein Wort mehr gefallen, Piet Reuter hatte aufgehört, Finnegan deswegen als Mörder zu beschimpfen. Finnegan war jedoch weit davon entfernt, zu glauben, daß dies ein gutes Zeichen sei. Es war lediglich die Ruhe vor dem Sturm, der unweigerlich über sie hereinbrechen mußte.
Lähmendes Schweigen lastete drückend auf dem Mars. Die Haie umkreisten weiterhin den Großmast und die Marsplattform, in der beharrlichen Hoffnung, daß es bald Beute für sie geben würde.
Piet Reuter war es schließlich, der das lange anhaltende Schweigen brach.
„Her mit dem Wasser“, sagte er rauh und wies auf die Holzpütz, in der ein jämmerlicher Rest von dem aufgefangenen Naß stand. „Jetzt sind wir wieder dran.“
Finnegan schüttelte den Kopf. „Irrtum. Ihr habt zweimal eure Ration gehabt.“
„Und ihr sauft, soviel ihr wollt, wenn wir schlafen.“
„Das ist nicht wahr.“
„Das ist doch wahr“, sagte der Holländer mit dem Starrsinn eines Kindes. „Du weißt es, Finnegan.“
„Ich weiß nur, daß wir vernünftig bleiben sollten.“
„Vernünftig?“ Dirk Pravemann lachte heiser. „Fängst du wieder mit deinen schlauen Sprüchen an?“
„Her mit dem Wasser“, sagte Reuter, und diesmal klang es drängend. „Ich habe Durst, Mann. Gewaltigen Durst.“
„Ich auch“, flüsterte Pravemann gierig.
„Aufpassen, Paddy“, zischte Finnegan seinem Freund zu. Sie standen beide auf und nahmen eine abwehrende Haltung ein. Finnegan schob den Wasserkübel wieder ein wenig näher zum Rand der Plattform.
Reuter und Pravemann waren nun auch auf den Beinen und schoben sich langsam heran. Der Bootshaken, dachte Reuter, es ist schade, daß wir ihn nicht doch ergattert haben, aber Marten, dieser Idiot, mußte ihn ja von den Haien zerbeißen lassen. Ist nicht schade um den Kerl, der Teufel soll ihn holen.
Wasser, dachte Pravemann, mein Gott, die Zunge liegt mir wie ein Klumpen im Mund. Habe ich überhaupt noch eine Zunge? Sind mir die Zähne ausgefallen? Himmel, ich lalle beim Sprechen! Was ist los?
„Ihr begeht einen schweren Fehler“, warnte Finnegan die Holländer noch einmal. „Ihr könnt die Pütz nicht erkämpfen. Ihr kriegt sie nicht.“
„Rück sie freiwillig raus!“ schrie Reuter, und plötzlich lief er im Gesicht blutrot an.
Finnegan begriff, daß alles Reden keinen Sinn mehr hatte. Selbst auf einen Kompromiß hätten sich Reuter und Pravemann in ihrem jetzigen Zustand nicht mehr eingelassen. Der dünne Faden, der ihre fünf Sinne bis zuletzt noch zusammengehalten hatte, war offenbar gerissen. Sie waren nicht mehr Herr ihres Tuns, der Wahnsinn hatte ihren Geist verblendet.
Achteinhalb Tage hatten genügt, sie um ihren Verstand zu bringen, die Gewalt regierte die Stunde.
Reuter stieß mit einemmal einen gurgelnden Laut aus und stürzte sich auf Finnegan. Finnegan duckte sich, blockte den Hieb ab, der seine Brust treffen sollte, konterte und warf den Kerl zurück bis an den Mast.
Rogers wollte mit eingreifen, mußte sich jedoch auf Pravemann konzentrieren, der ihn in diesem Moment mit ungeahnter Schnelligkeit angriff. Sofort versuchte Pravemann, Rogers empfindlich zu treffen, und riß seinen Fuß hoch.
Es war eine gemeine, niederträchtige Art der Attacke, doch genau dies und nichts anderes hatte Rogers von dem Kerl erwartet, und aus diesem Grund war er in gewisser Weise sogar vorbereitet.
Er packte Pravemanns Bein, ehe der Fuß seine Lenden traf, und drehte ihn kurz, aber ruckartig, nach links. Der Holländer schrie gellend auf. Rogers ließ ihn los, Pravemann stürzte, Rogers warf sich auf ihn, und im nächsten Augenblick wälzten und balgten sie sich auf dem Boden der Plattform.
Reuter unternahm derweil seinen nächsten Ausfall gegen Jack Finnegan.
Er duckte sich, tauchte unter den Armen des Gegners durch, sprang vor und trachtete, den Engländer vom Mars zu befördern. Finnegan war jedoch auf der Hut und wich aus. Reuter fiel auf den Bauch, rutschte ein Stück und glitt um ein Haar über den Rand der Plattform.
Er hielt sich verzweifelt fest. Unter sich sah er die Dreiecksflossen der Haie, und plötzlich hatte er sein grausiges Ende deutlich vor Augen. Dann aber richtete er seinen Blick nach links und entdeckte die Pütz in seiner unmittelbaren Nähe.
Er gab einen undefinierbaren Laut von sich, halb Lallen, halb Grunzen, dann packte er die Pütz und versuchte, sie an seinen Mund zu bringen.
Jack Finnegan war schneller. Er trat mit dem linken Fuß zu und traf Reuters Hand. Reuter heulte auf, ließ los – die Pütz segelte über den Rand der Marsplattform und senkte sich in einem Bogen auf die Wasserfläche. Klatschend tauchte sie ein und versank für alle Zeiten. Nur die Haie, die sich für kurze Zeit in der falschen Annahme, dies sei eine Beute, um sie herum versammelten, kündeten noch davon, daß es sie überhaupt gegeben hatte.
Reuter klammerte sich an Finnegans Bein fest.
„Du Satan!“ schrie er. „Du willst uns alle umbringen! Nicht nur Marten hast du abgemurkst – du willst auch uns weghaben, Dirk und mich und dann auch deinen Bastard von einem Freund!“
Finnegan wollte sich losreißen, doch Reuter biß ihm ins Bein. Seine Augen weiteten sich und glänzten irre, er war zu allem fähig.
Finnegan unterdrückte einen Schmerzenslaut. Er holte mit der Faust aus, schlug zu, traf Reuters Schläfe und konnte sich jetzt, da der Mann stöhnend zurücksank, aus dem Griff befreien.
Paddy Rogers rang immer noch mit Pravemann, denn dieser entwikkelte in seinem Zustand unglaubliche Kräfte. Zuletzt lagen sie hart am Rand der Plattform. Pravemann war jetzt unter dem schweren Mann, doch es gelang ihm, das Knie hochzureißen. So traf er Rogers in den Unterleib. Rogers stöhnte auf und ließ den Gegner los. Dirk Pravemann kroch unter ihm weg.
Aber er hatte die falsche Richtung genommen, robbte ins Leere und hatte plötzlich keinen Halt mehr. Er stieß einen Fluch aus, krallte sich noch mit seinen dürren Händen fest, rutschte aber ab, dann stürzte er mit einem Schrei, der dem eines Menschen schon nicht mehr ähnlich war, ins Wasser.
Reuter griff Finnegan noch einmal an, um ihn ins Wasser zu stoßen, er tobte und bediente sich der gemeinsten, lästerlichsten Ausdrücke, um den Engländer zu beleidigen. Jack Finnegan packte mit beiden Händen zu, stemmte Reuter hoch und ließ den Kerl höchst unsanft auf den Planken landen. Eigentlich hätte Reuter jetzt ohnmächtig werden müssen, doch er erwies sich als zäher, als Finnegan angenommen hatte.
Rogers griff nach der Marsverstrebung, um sie Reuter über den Hinterkopf zu ziehen, doch dieser sprang bereits wieder auf und warf sich mit einem Laut, der einer Mischung aus Kreischen und Keuchen ähnelte, auf seinen Gegner.
Noch einmal wich Finnegan aus, um nicht von der Plattform gestoßen zu werden. Piet Reuter raste an ihm vorbei und konnte nicht mehr rechtzeitig genug seinen Lauf stoppen. Er hatte sich verrechnet. Schreiend stolperte er über den Rand, bewegte sich zuckend in der Luft und entzog sich dann ihren Blicken.
Sie hörten das Geräusch, mit dem er ins Wasser klatschte, und vernahmen auch sein Gebrüll. Pravemann schrie nicht mehr. Die Haie wühlten das Wasser auf, das Rauschen drang bis zu den beiden Überlebenden hinauf.
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