„Sieh nicht hin, Paddy“, sagte Finnegan. „Es ist zu schrecklich.“
„Ja. Aber …“
„Wir können sie nicht mehr retten, unmöglich.“
„Das weiß ich. Ich meine was anderes.“ Rogers kratzte sich am Hinterkopf und suchte nach den richtigen Worten. Du sollst dir diesmal keine Vorwürfe bereiten, verstehst du? Es ist nicht unsere Schuld, daß sie abkratzen. Es hätte sie so oder so erwischt. Wir können nichts dafür. Fast wären wir selbst verreckt.“
Finnegan sah ihn offen an. „Das war mal wieder eine lange Rede, mein lieber Paddy. Aber du hast ganz recht. Unsere Schuld ist es nicht. Außerdem sind wir die Pütz los und haben nicht die geringste Aussicht, sie wiederzukriegen.“
„Wir gehen also auch vor die Hunde?“
„Vor die Haie, Paddy“, sagte Finnegan betrübt. „Die kriegen ihre Beute, das siehst du ja. Sie sind die wirklichen Sieger in diesem Teufelsspiel.“
Auch er war jetzt der Verzweiflung nahe. Er nahm wieder auf der Plattform Platz. Rogers setzte sich neben ihn. Das Toben der Haie hatte aufgehört, Reuters Geschrei war verebbt, und jetzt trat Ruhe ein. Die Haie zogen wieder ihre Kreise.
So geht es auch mit uns zu Ende, dachte Jack Finnegan.
Es ist alles ungerecht, sagte sich Paddy Rogers, die ganze Welt ist ein einziger Dreck, jawohl.
Die Abenddämmerung kündigte sich durch das Heraufziehen von Schleiern am Horizont an. Finnegan blickte noch einmal auf, ohne Hoffnung, ohne jede Zuversicht, es könne sich doch noch etwas ereignen, das ihnen die Rettung brachte.
Plötzlich aber gewahrte er etwas, das zuvor nicht dagewesen war. Er hob den Kopf.
„Paddy“, sagte er leise. „Es ist doch nicht mehr so heiß, daß es eine Fata Morgana geben könnte, nicht wahr?“
„Eine was?“
„Na, eine Luftspiegelung, die dir irgendwas vortäuscht. Sieh doch mal genau hin. Dort drüben, an der südwestlichen Kimm – sind das nicht Masten?“
Rogers erhob sich mit einem Ruck und schirmte seine Augen mit der Hand gegen das verblassende rötliche Sonnenlicht ab.
„Jawohl, Mann!“ stieß er plötzlich aus. „Das sind Masten – drei Stück!“
Nun stand auch Finnegan auf. Sie hielten gemeinsam Ausschau nach dem nahenden Schiff, einer Galeone, kletterten in den Wanten hoch, soweit sie konnten, winkten wie die Verrückten, lachten und schrien: „Ho, he! Hierher! Holt uns hier weg, laßt uns hier nicht sitzen! Hierher!“
Schon packte sie die Angst, die Besatzung der Galeone könne sie nicht gesichtet haben, doch ihre Furcht war unbegründet. Der Ausguck der „Mercure“ hatte sie entdeckt, das Schiff lurte an und drehte noch vor Einbruch der Dunkelheit bei der gesunkenen „Zeland“ bei. Eine Jolle wurde in Lee abgefiert und bemannt und glitt auf die aus dem Wasser ragende Plattform zu.
„Was treibt ihr denn da oben?“ rief einer der Rudergasten auf französisch.
„Ich versteh’ kein Wort!“ erwiderte Jack Finnegan. „Könnt ihr Englisch oder Holländisch?“
Da richtete sich ein rothaariger Riese von der Heckducht des Bootes auf und sagte: „Englisch? Sag’ bloß, du bist ein Landsmann.“
„Engländer, jawohl!“ stieß Finnegan aufgeregt hervor. „Aus Harwich, Sir! Bin bei der Nordseefischerei gewesen, aber dann hat mich die verdammte Idee gepackt, auf einem verfluchten Käsefresser anzuheuern. Na, und so ist das alles passiert. Der Kahn hier heißt ‚Zeland‘. Ist vor neun Tagen abgesoffen – oder waren’s acht? Egal. Der große Kerl hier, das ist mein Freund, Sir, er heißt Paddy Rogers. Und ich – ich bin Jack Finnegan.“
Die Jolle legte am Mast an. Ferris Tucker, der von Kapitän Pierre Delamotte zum Bootsführer ernannt worden war, enterte an den Wanten auf und trat zu den beiden armen Teufeln auf die Plattform. Er hielt ihnen seine ausgestreckte Hand hin.
„Ferris Tucker, gebürtig aus Cornwall. Redet mich bloß nicht mit Sir an. Auch nicht mit Mister Tucker. Ich heiße Ferris.“
„Danke, Ferris“, sagte Jack Finnegan.
Tucker blickte dem bulligen Rogers ins Gesicht. „Und du?“ Er drückte Finnegans Hand, dann bot er seine Rechte auch Rogers an. „Sprichst du nie ein Wort?“
„Selten“, erwiderte Paddy Rogers. Dann aber grinste er und packte Ferris’ Hand. Dieser staunte nicht schlecht, als der Kerl sie ihm fast zerquetschte.
„Nicht schlecht“, sagte er. „Für zwei Schiffbrüchige seid ihr noch ganz schön beisammen. Wie wär’s, wenn wir hier jetzt erst mal verschwinden? Ihr seid doch lange genug hier gewesen, oder?“
Die beiden entgegneten darauf nichts, denn von unten tönten jetzt die übelsten Flüche herauf, und jemand schlug mit einem der Riemen nach den Haien, die das Boot anzugreifen versuchten.
„Ihr Kakerlaken! Ihr triefäugigen Seegurken! Wollt ihr wohl abhauen? Ich zieh euch die Haut in Streifen von euren Affenärschen, wenn ihr nicht sofort anbraßt und abzieht!“
„Himmel“, sagte Finnegan. „Wer ist denn das?“
„Das ist Edwin Carberry, der Profos der verschütteten ‚Isabella‘ “, erklärte Ferris stolz. Er blickte über den Rand der Plattform in die Tiefe und grinste. „Los, entert mit ab, die Luft ist rein. Ed hat die Haie tatsächlich verjagt. Na los, bewegt euch. Den Rest erzählen wir uns im Boot und dann an Bord der ‚Mercure‘.“
Als sie in der Jolle saßen und zurück zur Galeone pullten, richtete sich Jack Finnegan plötzlich hoch auf und fragte: „He, Ferris Tucker und Edwin Carberry – jetzt geht mir ein Licht auf! Ihr gehört zu der sagenhaften Crew von Philip Hasard Killigrew, dem Seewolf, nicht wahr?“ Plötzlich packte er seinen Freund und schüttelte ihn. „Mann, Paddy, wach doch auf, sag was! Das sind die berühmten Arwenacks, die Helden der englischen Nation!“
„Trag bloß nicht zu dick auf“, sagte der Profos grollend, aber er war insgeheim doch mächtig stolz, solche Worte zu hören.
Finnegan und Rogers sollten fortan absolute Parteigänger von Ferris Tuckers Gruppe sein und sie um ein eisernes Glied verstärken. Bessere Kameraden konnte man sich nicht wünschen, das ging auch Ferris, Ed, Stenmark, dem Kutscher, Blacky, Jeff, Bill und Luke schon nach kurzer Zeit auf – und auch Delamotte hatte keinen Grund, sich über seine neuen Passagiere zu beklagen.
Die „Mercure“ nahm die Bootsbesatzung über, die Jolle wurde wieder an Deck geholt, und kurze Zeit später segelte die Galeone weiter westwärts.
Fünf Stunden später sollte ihr die spanische Galeasse „San Antonio“ folgen, doch das ahnte zu diesem Zeitpunkt an Bord der „Mercure“ noch keiner …
Die See war glatt wie seit Stunden. Über Juan de Faleiros Geiergesicht huschte ein befriedigtes Grinsen, als er mit der rechten Hand die Seekarte glattstrich, auf der er den Kurs verzeichnet hatte, den die französische Galeone „Mercure“ aller Wahrscheinlichkeit nach segeln würde.
Das dumpfe Pochen der Trommel, mit dem der Zuchtmeister den Takt für die Ruderer angab, klang wie Musik in seinen Ohren. Die „Mercure“ würde bei dieser Windstille nicht eine Seemeile am Tag segeln, er dagegen konnte mit seinen einhundertsechzig Rudersklaven in vierundzwanzig Stunden fast zweihundertvierzig Seemeilen zurücklegen.
Als sie aus dem Hafen Damiette ausgelaufen waren, hatte der Wind aus Norden geblasen, also würde die „Mercure“ Westen zum Norden steuern, damit sie Luvraum gewann, den sie brauchte, um Cyrene, die Spitze der Cyrenaika zu passieren und die Straße von Sizilien anzulaufen.
Juan de Faleiro wußte, daß er mit seiner Galeasse eindeutig im Vorteil war. Er konnte segeln und rudern. Mit den vierzig Riemen, die von je vier Ruderern bedient wurden, war er nicht auf günstigen Wind angewiesen. Nur bei heftigem Seegang, wenn es unmöglich war, die Riemen im Gleichklang durch das aufgewühlte Wasser zu peitschen, war er im Nachteil. Aber danach sah es zum Glück nicht aus.
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