Hasard klammerte sich wieder fest, rutschte am Manntau und erreichte mit den Füßen das Backbordschanzkleid. Hier und da sah er die Gestalten von Männern aus Schaum und Gischt auftauchen.
„Räumt das Deck!“ schrie er ihnen zu. „Bringt euch in Sicherheit, verdammt noch mal! Es hat alles keinen Zweck mehr!“
Mit verbissener Miene kletterte er den Niedergang zum Quarterdeck hoch. Im nachhinein war ihm später nicht mehr ganz klar, wie er das Ruderhaus erreicht hatte. Mehr kriechend als aufrecht dahinstolpernd gelangte er jedenfalls hin. Nur Pete Ballie konnte den Schrei ausgestoßen haben.
Hasard fühlte, wie eine eisige Hand nach seinem Herzen griff.
Das Ruderhaus war nur noch ein Trümmerhaufen. Ein besonders starker Brecher mußte es zermalmt haben, oder der elende, verfluchte Drehwind hatte an dieser Stelle solche Macht gehabt, daß er das Ruderhaus glatt zerfetzt hatte.
Hasard räumte die Trümmer auseinander, er war wie besessen am Werk, riskierte, von Bord gespült zu werden, und bemerkte nicht, wie jetzt auch Ben, Ferris, Carberry und Smoky eintrafen, um ihm zu helfen.
Sie legten Pete Ballie frei.
Pete war immer noch festgebunden, das war sein Dilemma. Er lag unter dem zerborstenen Ruderrad begraben und stieß die unflätigsten Verwünschungen aus. Hasard zog sein Messer, zerschnitt das Haltetau und half seinem Rudergänger, aus der lebensgefährlichen Falle zu kriechen.
„Hast du dir was gebrochen?“ schrie Ben Brighton.
„Weiß ich nicht!“ brüllte Pete keuchend zurück.
„Das mußt du doch wissen!“ schrie der Profos.
„Ich hab mich noch nicht gefragt!“ rief Pete Ballie, und es klang verzweifelt.
Dann leuchtete ihm ein, was für einen Witz er losgelassen hatte, und er lachte mit Hasard und den anderen. Ja, sie lachten, im mörderischsten Taifun wollten sie sich plötzlich ausschütten vor Lachen. Es war ein wildes, fast irrsinniges Lachen, das ihre Gefühle freilegte. Die Seewölfe heulten gegen das Orgeln der entfesselten Naturgewalten an, aber sie hatten keine Hoffnung mehr, aus dem Chaos zu entkommen.
Sie arbeiteten sich auf Hasards Wink hin zum Niedergang und krochen auf die Kuhl hinunter. Das Quarterdeck war ein gefährlicher Platz, auf dem sie sich auf die Dauer nicht halten konnten. Die Kuhl bot kaum größere Chancen, den Hieben von Sturm und See zu trotzen, aber von dort aus gelangte man durchs Schott ins Achterkastell. Unter Deck lag die letzte Hoffnung. Sie hieß, nicht allein inmitten der Fluten zu ersaufen, sondern mit der „Isabella VIII.“, ihrer guten alten, vertrauten Lady mit dem verzierten Hintern.
„Schockschwerenot!“ röhrte Carberrys Organ. „Wenn ich das hier heil überstehe, saufe ich eine Pulle Rum ohne abzusetzen aus.“
„Und im Stehen!“ schrie Ferris Tucker.
„Worauf du einen lassen kannst!“
„Wie wär’s mit zwei Flaschen?“ rief Ben Brighton mit aller Macht – nur, um die aufsteigende Panik irgendwie zu bekämpfen. „Der Vorrat ist noch groß genug, wir brauchen ihn bloß zu plündern.“
„Mister Brighton!“ brüllte der Profos. „Das ist undiszipliniertes Verhalten, verstanden? Das ist ja schon fast ein Aufruf zur …“
Das Wort Meuterei blieb ihm in der Kehle stecken, denn er hatte einen Schwall Wasser in den Mund gekriegt. Prustend stieß er ihn wieder aus. Sie lagen auf Deck und Niedergang, klammerten sich an den Manntauen fest und warteten, bis der Brecher über sie hinweggerast war. Fluchend schoben sie sich weiter, rappelten sich auf und trachteten, das Achterdecksschott zu erreichen.
Die „Isabella“ krängte wieder nach Backbord. Ein Ächzen lief durch den Schiffskörper. Hasard registrierte als erster, was sich plötzlich auf der Kuhl abspielte, und er hatte das Gefühl, ein Hagel von Eispickeln ginge auf seinem Rücken nieder.
Eine der Culverinen auf der Backbordseite der Kuhl hatte sich halb gelöst. Sie wurde nur noch von der einen Brook gehalten, die ein Zurückrollen über Deck verhindern sollte. Im Vorwärtspoltern wurde sie nicht mehr gebremst. Sie donnerte voran und rammte sich mit ihrem vollen Gewicht in die Stückpforte des Oberdecks, daß der Lukensüll fast herausbrach.
Die ganze Zeit über hatte der Seewolf mit . etwas Derartigem bereits gerechnet. Er hielt sich mit aller Macht an den Manntauen fest und hangelte auf dem stark abschüssigen Deck auf den 17-Pfünder zu. Er konnte den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen. Wenn die „Isabella“ zur anderen Seite krängte, konnte auch das zweite Brooktau reißen. Dann raste die Culverine wie ein Riesengeschoß quer über die Kuhl und zerschmetterte an Steuerbord das Schanzkleid, und falls in diesem Augenblick ein Mann im Wege stand, mußte es ihn zermalmen.
Hasard hatte den schweren 17-Pfünder erreicht. Immer noch lag die „Isabella“ auf ihrer Backbordseite, als müsse sie jeden Moment kentern.
Hasard arbeitete mit fliegenden Fingern und versuchte, das lose Brooktau wieder zu belegen. Aber das stieß auf unverhoffte Schwierigkeiten. Das Tauwerk war an zwei Stellen gebrochen. Es war unmöglich, es durch Knoten wiederherzustellen und sich gleichzeitig am Manntau festzuhalten. Hasard fluchte.
Eine Gestalt sauste plötzlich an ihm vorbei – die von Ben Brighton. Es sah so aus, als würde der eigene Schwung den Bootsmann und ersten Offizier über die Oberkante des Schanzkleides befördern. Hasard stieß einen Ruf aus und streckte die Hand aus.
Ben stand ohne Halt für zwei, drei Sekunden auf dem überfluteten Schanzkleid. Er ruderte mit den Armen. Ein Tau hatte er sich um die Hüften geschlungen. Zweifellos wollte er dem Seewolf helfen.
„Ben!“ brüllte der Seewolf.
Ben brachte seinen Oberkörper in Richtung Deck, packte Hasards Hand, zerrte daran – und konnte sich neben ihn befördern. Er atmete auf. Sie hingen in den Manntauen, rollten in aller Eile das von Ben mitgebrachte Tau auseinander und schlangen es um die Hinterpartie der Kanone zwischen Bodenstück und Lafette. Noch steckte der 17-Pfünder in der Stückpforte festgeklemmt. Noch!
Aber dann krängte die „Isabella“ nach Steuerbord. Als sich das Deck in der Waagerechten befand, begann das Geschütz sich aus dem Süll zu lösen. Hasard sprang auf das Schanzkleid zu, warf sich herum, stemmte sich mit den Füßen fest und packte das Brooktau, das die Rückwärtsbewegung der Culverine aufhalten sollte.
Er zerrte daran und verhinderte auf diese Weise, daß die Culverine in Schwung geriet. Sie rollte nur noch ein Stück auf den Hartholzrädern ihrer Lafette in Richtung Kuhlgräting. Dann stand sie.
Ben hatte den Augenblick ebenfalls genutzt und das neue Tau an der Deckshalterung belegt. Man hätte das Tauende in den soliden Augbolzen verspleißen sollen, um ganze Arbeit zu leisten, aber dazu war keine Zeit. Ben zurrte das Tau fest, so gut es ging, Hasard unterstützte ihn. Dann mußten sie von der Culverine ablassen und auf das Achterdecksschott zustürzen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Ein Brecher, der alle bisherigen übertraf, wuchs so gigantisch wie eine Kathedrale neben der „Isabella“ hoch und fuhr auf sie zu. Querzuschlagen drohte das Schiff unter dem niederschmetternden Wasserberg, und doch geschah es nicht. Irgend etwas hielt die „Isabella“ immer noch, vielleicht die achtern ausgebrachte Trosse, vielleicht das, was man eine glückliche Fügung nennt. Stöhnend richtete sie sich wieder auf. Sie glitt auf einen schäumenden Wogenkamm hinauf und raste dann wieder in eine Schlucht hinunter, dem schwarzgähnenden Abgrund der Hölle entgegen.
Wie lange stand sie das noch durch?
Hasard stellte sich diese Frage nicht. Er wußte, daß es der Beginn der Kapitulation sein würde. Durchhalten, dachte er deshalb, nicht grübeln, durchhalten!
Er lag im finsteren Achterdecksgang und hatte das Gefühl, seine Knochen einzeln zusammensuchen zu müssen. Den Niedergang war er hinuntergestürzt, danach hatte ihn die Schiffsbewegung ein beträchtliches Stück schliddern lassen.
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