Sein Ruf weckte Alarmstimmung. Vorsichtshalber ließ de Sor klar zum Gefecht rüsten, aber wenig später stellte sich heraus, daß es sich bei den Männern in den beiden großen Booten und der kleineren Jolle um Landsleute handelte.
Damit nicht genug: Von der „Santa Luzia“ aus erkannte man den Kapitän Nuno Goncalves, den ersten und den zweiten Offizier sowie den Bootsmann von der „Sao Paolo“.
Sofort ließ der Capitán Braga de Sor alle erforderlichen Manöver für die Übernahme der Schiffbrüchigen durchführen.
Die erste Frage, die de Sor seinem Rangkollegen Goncalves stellte, als dieser an Bord stieg, lautete: „Wo ist Ihr Schiff, Senhor?“
Goncalves zuckte mit den Schultern.
Redseliger wurde er, als kurze Zeit darauf ein zweites Schiff an der Stätte der Begegnung erschien – die „Bahia Blanca“, das fünfte Schiff des Verbandes.
Die Verspätung, mit der sie auftauchte, war folgendermaßen zu erklären: Kapitän Vincenzo Cunhal hatte zunächst die Überlebenden aus dem Gefecht mit der „Isabella“ aufgesammelt, während die „Sao Paolo“ weiter dem Schiff der englischen Korsaren gefolgt war. Zu den Männern, die sich von dem versenkten Flaggschiff „Bartolomeu Diaz“ und der dritten Galeone „Vasco da Gama“ hatten retten können, gehörte auch der Kommandant des Verbandes: Silvan da Odemira. Er hatte sofort den Befehl über die „Bahia Blanca“ übernommen und die Inseln im Norden von Formosa abgesucht, in der Hoffnung, auf die „Sao Fernao“ von Lucio do Velho und die „Santa Luzia“ des Braga de Sor zu treffen. Anschließend war er nach Süden abgelaufen, hatte jedoch zunächst die Westküste von Formosa erreicht.
An Bord der „Bahia Blanca“ fand nun eine Versammlung des Kommandanten und der vier Kapitäne statt.
„Der Seewolf hat die ‚Sao Paolo‘ entführt“, sagte Nuno Goncalves niedergeschlagen. „Anders kann es nicht sein. Sie ist spurlos verschwunden. Seit dem Morgengrauen suchen wir sie – ohne Erfolg.“
„Unmöglich“, widersprach do Velho sofort. „El Lobo del Mar hat nicht genügend Kerle zur Verfügung, um auch ein zweites Schiff zu bemannen. Außerdem – wenn er eine zweite Galeone gewollt hätte, hätte er schon die ‚Sao Fernao‘ als Prise genommen.“
„Do Velho“, wandte sich der Kommandant an den Mann mit der mimischen Begabung. „Was ist eigentlich mit Ihrem Schiff passiert?“
Do Velho schilderte, was sich in der Bucht der kleinen Insel nördlich von Formosa ereignet hatte. Er schloß mit dem Bericht über Vicentes und Carlos’ Meuterei, dann sprach er noch einmal über die „Sao Paolo“: „Ich bin der Ansicht, die Engländer haben sie versenkt. Ich wäre bereit, einiges darum zu verwetten.“
Silvan da Odemira stand eine Weile fassungslos da. „Vier gut armierte Kriegsgaleonen vernichtet – und auf welche Art! Es ist kaum zu glauben. Ich bin – zutiefst erschüttert.“
Die Kapitäne und die Offiziere entgegneten nichts. Sie hatten die Befürchtung, von ihrem Comandante für das ganze Mißgeschick verantwortlich gemacht zu werden. Goncalves beschloß im stillen, die Schuld für die Niederlage in der Nacht auf jeden Fall auf jene Männer der „Sao Paolo“ abzuwälzen, die feige die Flucht ergriffen hatten. Ja, darin lag seine Chance.
Der Kommandant war jedoch auf etwas anderes aus.
„Wir werden jetzt so vorgehen“, sagte er. „Nehmt eins der Beiboote. Bemannt es. Do Velho, Sie leiten das Unternehmen. Goncalves, Sie führen unsere Leute zu der Stelle, an der die ‚Sao Paolo‘ vor Anker gelegen hat. Taucher sollen sich vergewissern, welche Version nun die richtige ist.“
Eine Stunde später war auch dies geschehen. Beinah triumphierend verkündete do Velho auf der „Bahia Blanca“ das Ergebnis seiner Nachforschungen. Er war selbst mitgetaucht, um Solidarität und Gründlichkeit hervorzukehren – und er hatte die „Sao Paolo“ auf dem Grund des Meeres ruhen sehen.
„Wir können sie nicht bergen“, erklärte er. „Nicht so. Wir benötigen mehr Schiffe und Spezialausrüstungen.“
Der Kommandant schüttelte den Kopf. „Nein. Ich plane nichts in der Richtung. Wir müssen den Seewolf fassen, das ist vordringlich.“
„Er ist noch auf der Insel“, stieß Goncalves hervor.
„Wir müssen landen!“ Vincenzo Cunhal schrie es.
„Wir schießen jeden nieder, der sich uns in den Weg stellt“, fügte Braga de Sor erbittert hinzu.
Ihre Ausrufe rangen Silvan da Odemira nur ein freudloses Lächeln ab.
„Nein“, sagte er noch einmal. „Sie irren sich, Senhores. Der Gegner Spaniens und Portugals, des Vereinigten Königreiches, ist fort. Ich ahne, wohin er unterwegs ist. Darum werden wir nicht auf Formosa landen, sondern unsere Fahrt unverzüglich fortsetzen. Ich weiß, ich weiß, das weicht erheblich von unserer ursprünglichen Order ab. Aber ich frage Sie, was ist wichtiger? Formosa zu besetzen und die Mönche zu unterwerfen – oder Killigrews schimpflichem Werk ein Ende zu setzen?“
Do Velho fand, daß der Kommandant Veranlagungen hatte, die ihm eine Karriere als Hofschauspieler gesichert hätten.
Ungefähr im gleichen Tonfall und mit derselben gedrechselten Ausdrucksweise antwortete er: „Wir müssen die Spur des Seewolfs wiederfinden, mi comandante. Das Unternehmen Formosa kann zweifellos warten.“
„Richtig, do Velho. Ich weiß, daß Sie zu den fähigsten Männern zählen, die die Armada von morgen vielleicht in einen entscheidenden Kampf gegen England führen. Wohin hat sich der Feind Ihrer Meinung nach gewandt?“
„Nach den Philippinen“, erwiderte do Velho, ohne zu überlegen.
„Absurd“, erwiderte Goncalves. „Er müßte ja wahnsinnig sein …“
„Er tut immer das, was man am wenigsten von ihm erwartet“, sagte Lucio do Velho gelassen. „Ich kann nur raten, an der Ostküste von Formosa entlangzusegeln. Ja, dort stoßen wir wieder auf die ‚Isabella‘, nicht auf der Westseite. Der Seewolf hat den einfacheren Weg gewählt. Er weiß, daß wir nicht von ihm ablassen.“
„Das ist genau meine Meinung“, pflichtete der Kommandant des Verbandes ihm bei, obwohl er ganz und gar nicht sicher gewesen war, welche Richtung er einschlagen solle. „Segel setzen!“ rief er dann. „Wir gehen auf Ostkurs, bis das Nordostkap erreicht ist.“
Lucio do Velho begab sich mit Vincenzo Cunhal zurück auf die „Bahia Blanca“. Dort sollte er auf da Odemiras Geheiß hin zunächst bleiben.
Do Velho verging nicht vor Haß gegen den Seewolf, er spürte die alte Kaltblütigkeit und Abgefeimtheit in sich zurückkehren. Das Verlangen, sich die Belohnung zu verdienen und auf der Karriereleiter aufzusteigen, stand weit über seinen Rachegefühlen gegen Philip Hasard Killigrew und dessen Crew.
Aus Berechnung war er zu einem der grimmigsten Seewolf-Hetzer geworden. Und noch etwas: Er sah sich vor der ehrenvollen Aufgabe, Manila vor dem Seewolf zu warnen und zu schützen. Silvan da Odemira überging er im Geist – er, do Velho, wollte alles daransetzen, möglicherweise vor der „Isabella“ in Manila zu sein und dort wieder eine Falle aufzubauen, eine neue, bessere Falle, aus der es kein Entrinnen mehr gab.
Ob es gelang, stand noch in den Sternen.
In einem aber war do Velho völlig überzeugt. Manila war das Ziel des Seewolfs. Er würde nicht daran vorbeisegeln. Niemals. Die Verlockung war zu groß. Ein Raid wie dieser mußte einen Mann von Killigrews Format reizen.
Noch am späten Nachmittag dieses Tages gelangten die „Bahia Blanca“ und die „Santa Luzia“ an die Ostküste von Formosa. Von der „Isabella VIII.“ war zu diesem Zeitpunkt jedoch keine Mastspitze zu sehen, weder an der östlichen noch an der südlichen Kimm.
Die Stimmung an Bord der großen Galeone war grandios. Zwölf Flaschen waren bereits entkorkt und geleert worden, und von den Kuchen, die der Kutscher schon vor Formosa in der Kombüse gebacken hatte, war kein Krümel übriggeblieben. Ja, Arwenack und Sir John hatten sogar ihre liebe Not gehabt, etwas von dem Gebäck zu ergattern.
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