»Ganz einfach«, antwortete der Arzt. »Eine Schwarzpulverladung. Mit Zündschnur. Total simpel. Das brennende Gas entfacht die Zündschnur, und die Ladung geht nach einigen Sekunden hoch. Wenn ihr mich fragt, war das eine geplante Verzögerung. Anscheinend wollte der Täter nicht, dass jemand ernsthaft zu Schaden kommt.«
»Stopp. Stopp.« Lüppo Buss rieb sich die Nasenwurzel. »Das geht mir jetzt etwas zu schnell. Wie kommst du auf Schwarzpulver? Und woher weißt du das mit der Zündschnur?«
»Ganz einfach. Schwarzpulver hat einen charakteristischen Geruch, und der ist hier deutlich wahrzunehmen. Und die Zündschnur? Noch einfacher: Da liegt sie.«
Jetzt war es der Oberkommissar, der den Kopf in den Kühlschrank steckte. Sofort wurde er sich des stechenden Geruchs bewusst. Schwarzpulver, keine Frage. Und da, ganz unten, eingeklemmt zwischen den dünnen Stäben eines Rostes, steckte tatsächlich ein Stückchen Zündschnur, völlig unversehrt. Vermutlich war es das Endstückchen, das tief in der Ladung gesteckt hatte.
»Warum ist es nicht auch verbrannt?«, fragte er.
»Durch die Explosion ausgepustet«, antwortete Fredermann, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. »Solche Zufälle passieren. Glaube nur einem alten Pyromanen.«
Der Inselpolizist schaute ungläubig. So ungläubig, dass Fredermann sich zu einer weiteren Veranschaulichung genötigt sah. »Als ich noch drüben auf dem Festland praktiziert habe, wurde ich mal zu einem Unfall an einem unbeschrankten Bahnübergang gerufen. Eine Lok hatte einen VW Käfer gerammt und mitgeschleift, der Autofahrer überlebte schwer verletzt. Der Wagen war natürlich Schrott. Aber oben auf dem rechten Puffer der Lok, da, wo er abgeflacht ist, lag eines der Seitenfenster des VW. Völlig unbeschädigt, ohne einen Kratzer! Tatsache. Da haben auch alle gefragt: Wie kann das denn? Die Antwort ist einfach. So etwas passiert eben.«
Lüppo Buss nickte andächtig.
In diesem Moment räusperte sich Insa Ukena vernehmlich und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Eingang. Schnell und auf Zehenspitzen verließen die beiden Männer den Tatort und bauten sich hinter der Oberkommissarin auf.
Ein hagerer Mann mit grauem Teint hatte das Hotel betreten und schaute sich misstrauisch um. Tief eingekerbte Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln teilten die ungewöhnlich lange Oberlippe vom Rest seines Gesichts ab. Dies, seine kleine Statur und die nikotingelben Finger der rechten Hand gemahnten entfernt an Altkanzler Helmut Schmidt. Fehlt nur noch die Prinz-Heinrich-Mütze, dachte Lüppo Buss. Aber eine Mütze trug Hauptkommissar Dedo de Beer niemals.
Der Inselpolizist biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefermuskeln deutlich hervortraten, während er den herablassenden Gruß seines Dienstvorgesetzten aus Wittmund steif erwiderte. Dann trat er beiseite, um den Kollegen, die in de Beers Gefolge die Hotelküche fluteten, nun auch symbolisch das Feld zu überlassen.
Ein greller Blitz ließ ihn zusammenzucken. Er brauchte einen Moment, um sich klarzumachen, dass das keine erneute Explosion, sondern nur das Blitzlicht einer Kamera gewesen war. Schon blitzte es ein zweites, ein drittes Mal. Wer war dieser Kerl, der sich erdreistete … aha, der neue Typ vom Inselboten, dieser Marian Godehau.
»Was ist?«, knurrte de Beer dicht hinter ihm. »Pennt ihr? Los, raus mit dem Kerl!«
Lüppo Buss lief krebsrot an, beherrschte sich aber. Die Arme ausgebreitet, trat er dem eifrigen Reporter entgegen. »Keine Fotos«, sagte er betont ruhig. »Verlassen Sie bitte den Tatort. Hier gibt es nichts …« Er brach ab, plötzlich peinlich berührt von der Rolle, die er hier zu spielen hatte, und kaschierte sein Verstummen mühsam, indem er sich umständlich räusperte. »Also bitte«, ergänzte er heiser.
Marian Godehau hatte nur Augen für die verwüstete Küche. »Nur noch ein Foto«, bat er, von Diensteifer erfüllt. »Einmal voll in das Chaos hinein, okay? Schadet doch niemandem. Was glauben Sie, wie das aussehen würde, morgen auf der Titelseite!«
»Kommt gar nicht in Frage.« Lüppo Buss schüttelte den Kopf, energisch, aber ohne echte Überzeugung. Hatte der Bursche nicht recht? Hier gab es doch nichts zu verheimlichen, keine Gefahr, dass die Ermittlungen behindert wurden, nur weil alle sehen konnten, wie die zermatschten Früchte an der Decke klebten. Der einzige Grund, hier nicht zu knipsen, war die Tatsache, dass Dedo de Beer es verboten hatte. Der Inselpolizist schnaufte.
»He, schon gut. Kein Grund, sich aufzuregen.« Godehau hob abwehrend die linke Hand, während er mit der rechten immer noch versuchte, seine Kamera in Schussposition zu bringen. Mit professioneller Gier linste er an Lüppo Buss vorbei. »Ein Foto nur, ja? Ich mach’s auch ohne Blitz. Und ich sorge dafür, dass Sie in meinem Artikel gut wegkommen. Na, wie wäre das?«
Der spinnt doch, dachte der Oberkommissar, während er über seine Schulter nach hinten blickte. Wie es aussah, teilte de Beer gerade seine Leute ein. Keiner achtete momentan auf ihn und den Journalisten.
»Oder noch besser.« Godehau bettelte und schmeichelte weiter. »Ein Porträt! Ich schreibe ein Porträt von Ihnen. Gleich in der übernächsten Ausgabe. Ganz groß, mit Fotostrecke: ›Der Mann, der Langeoog sicher macht‹. Das hätte doch was, oder?«
Lüppo Buss warf noch einen Blick auf de Beer, der seinen mürrischen Blick überall hin richtete, nur nicht auf ihn. »Na gut«, zischte der Inselpolizist aus dem Mundwinkel. »Eins. Und ohne Blitz.« Er senkte die Arme. Godehau machte fast einen Freudensprung. Dann ließ er seine Digitalkamera schnarren.
»Buss! Was soll das, verdammt!« De Beers Stimme glich einem Bellen. Lüppo Buss drehte sich nicht um, während er vorgab, den Journalisten nun aber endgültig zu verscheuchen. So konnte der Hauptkommissar sein breites Grinsen nicht sehen.
Jannik Bartels hasste es, wenn sein Vater ihn so ansah. Jedes Mal fühlte er sich dann peinlich gemustert, als untermaßig erkannt, geradezu schuldbewusst. Und sein Vater sah ihn fast immer so an. Wenn er überhaupt Notiz von ihm nahm, denn meistens schaute er über ihn und alles, was er unternahm, geringschätzig hinweg. Jedenfalls kam dem jungen Koch das so vor. Vielleicht lag es ja daran, dass sein Vater um einen guten Kopf größer und erheblich massiger war als er. Aber sicher war Jannik sich da nicht.
Bloß gut, dass Doktor Fredermann ihn so bald schon hatte gehen lassen. Aber warum auch nicht? Klar, dieser Riesenbumms von heute früh steckte ihm noch in den Knochen, Himmel nochmal. Aber Verletzungen hatte er kaum davongetragen, nur ein paar Schnitte und Schrammen, kaum der Rede wert, und die Pflaster wurden entweder von der Kleidung und seinen angesengten Haaren verdeckt oder fielen kaum auf. Als Koch schnitt man sich schon mal in den Finger oder verbrühte sich den Arm, da waren Pflaster ganz normal. Und das Klingeln in den Ohren hatte auch schon deutlich nachgelassen. Fredermann hatte ihm noch eine Abschlussuntersuchung verpasst, mehr rau als herzlich, und ihn dann hinauskomplimentiert. Ganz schön harter Hund für einen angeblichen Helfer der Menschheit. Aber dem jungen Koch sollte es recht sein, schließlich hatte er heute noch etwas vor.
Die Mittagsfähre war randvoll und spülte eine satte Ladung frischer Touristen auf die bereits gut ausgelastete Insel. Gut fürs Geschäft, dachte Jannik Bartels, und auch gut für die Restauranteröffnung heute Abend. Natürlich waren alle verfügbaren Tische längst reserviert, die Neugierde war schließlich groß, aber es konnte ja nicht schaden, wenn genügend potentielle Kundschaft nachdrängte. Denn die Lobeshymnen, die er mit seinen Menüs auszulösen gedachte, sollten ja auch angemessenen Widerhall finden.
Sein Vater hatte sich durch den dichten Pulk der Passagiere bereits bis ans Ende der Gangway vorgearbeitet, als Jannik Bartels endlich auch seine Mutter erblickte. Nicht nur rein äußerlich war sie das komplette Gegenteil ihres Mannes: klein, zierlich, rothaarig, sommersprossig und herzlich. Klarer Fall, die meisten meiner Gene stammen von ihr, dachte Jannik Bartels, als er sich endlich zu seiner Mutter durchgedrängelt hatte und von ihr in die Arme geschlossen wurde. Bloß die Segelohren habe ich von meinem Vater, und auf die hätte ich auch gut verzichten können.
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