Ulrich Hefner
Der Sohn des Apothekers
Kriminalroman
Ulrich Hefner wurde 1961 in Bad Mergentheim geboren. Er wohnt in Lauda-Königshofen, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Hefner arbeitet als Polizeibeamter und ist freier Autor und Journalist. Er ist Mitglied in der IGdA (Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren), im DPV (Deutschen Presseverband) und im Syndikat. Weiterhin ist er Gründungsmitglied der Polizei-Poeten. Die Polizei-Poeten veröffentlichten inzwischen vier Bücher, die nicht nur in Polizistenkreisen auf großes Interesse stießen. Neben der Krimiserie um den Ermittler Martin Trevisan, die inzwischen aus sechs Bänden besteht, sind inzwischen auch drei Thriller erschienen, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurden. www.ulrichhefner.de und www.autorengilde.de.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
(Originalausgabe erschienen im Leda-Verlag 2012)
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Nordreisender / photocase.de
ISBN 978-3-8392-6526-0
September 1999, nahe des Steinhuder Meeres
Sie rannte immer tiefer hinein in den Wald, sie rannte und ihre Lungen schmerzten. Sie rannte um ihr Leben. Sie spürte, dass ihr der Verfolger dicht auf den Fersen war. Ihre Beine trugen sie voran, über das feuchte Moos, über herumliegende Äste, durch das niedere Gebüsch, und doch: Ihre Kraft ließ nach.
Immer noch hatte sie dieses Bild vor Augen … Melis Gesicht voller Blut. Blutig, weil sie nicht bereit war, sich diesem Ungeheuer zu fügen, weil sie sich gewehrt hatte, geschrien, gebissen und gekratzt. Dann war dieses Monster aufgesprungen und hatte wie wild auf sie eingeschlagen. Er hatte sie zu Boden geschlagen und schließlich zu einem Stein gegriffen. Es war wie ein böser Traum. Sie war zu keiner Bewegung fähig, nicht fähig, Meli zu helfen. Wie auch, was hätte sie denn tun sollen.
Dieses Ungeheuer war viel zu stark.
Und dann, dann hatte sich die Paralyse gelöst. Wie eine Katze war sie aufgesprungen, nur einen Gedanken im Sinn: Weg hier!
Das nahe Gehölz, dorthin wollte sie fliehen, doch ehe sie den Waldsaum erreichte, sah sie, dass er ihr folgte. Diese grausig entstellte Fratze, dieses vom Wahnsinn gezeichnete Gesicht. Ein einziger Alptraum, nur dass dieser Traum einfach nicht enden wollte.
Sie lief, sie hetzte, sie strauchelte, stolperte und stürzte, raffte sich wieder auf und hastete weiter. Doch als sie an einen Abhang kam, hielt sie inne. Ihr Herz raste wild und sie rang nach Atem. Ihr Blick blieb an einem alten Baumstumpf haften. Ein umgestürzter Baumstumpf, darunter eine Erdkuhle. Sie schwankte auf den Baumrest zu und kroch in die kleine Vertiefung unter dem Gehölz. Ein gutes Versteck, schoss es ihr durch den Kopf und sie war überrascht, dass sie überhaupt noch in der Lage war, einen Gedanken zu fassen. Langsam gewann sie auch die Kontrolle über ihre Lungen zurück. Leise, du musst leise sein, entspannt atmen, rief sie sich zur Ruhe.
Die Sekunden zogen sich endlos dahin. Angestrengt lauschte sie in das Halbdunkel der Dämmerung. Noch immer war es hell genug, um die Konturen der Büsche und Bäume zu erkennen. Er war irgendwo dort draußen und suchte nach ihr. Die Geräusche seiner Schritte drangen aus weiter Ferne zu ihr herüber. Hatte sie es geschafft, war sie entkommen, diesem puren Wahnsinn entkommen?
Wenn es nur endlich richtig dunkel würde, dachte sie, und wiederum wunderte sie sich über den Gedanken. War es früher nicht genau diese Dunkelheit gewesen, vor der sie immer Angst gehabt hatte? Nun wartete sie darauf, als brächte Dunkelheit die Erlösung.
Als es laut hinter ihr raschelte, fuhr sie erschrocken zusammen. Am liebsten hätte sie geschrien, doch sie verbiss sich den verräterischen Laut, erstickte das Bedürfnis, die Angst laut hinauszubrüllen.
»Ich fang dich, ich krieg dich!«, drang der Ruf dieses Ungeheuers durch den Wald, als sei dies alles ein Spiel. Sie schloss ihre Augen.
Es raschelte erneut. Diesmal viel näher als zuvor. Sie duckte sich tiefer und ihre Stirn berührte die kalte Erde. Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz.
»Ich hab dich … hab dich … hab dich«, erklang plötzlich diese unheimliche und irrsinnige Stimme direkt in ihrem Rücken. Ein irres Kichern folgte. Der Schmerz wurde stärker. An den Haaren zog er sie hervor. »Komm schon«, flüsterte der Irre in ihr Ohr. Schon warf er sie zu Boden und riss ihr die Hose herunter. Sie war nicht mehr fähig, sich zu wehren. Erst als sie den Schmerz in ihrem Unterleib spürte, schlug sie ihre Augen wieder auf und blickte in diese verzerrte Fratze. Rhythmisch wippte sein Schädel auf und ab, und immer wenn er sich nach unten neigte, wurde der Schmerz im Unterleib stärker. Sie schloss ihre Augen und fügte sich in ihr Schicksal. Sein Mund roch modrig und faulig, und als sie seine schmierigen und schleimigen Lippen auf ihren spürte, schmeckte sie die Ausdünstungen des Alkohols.
Irgendwann schwanden ihr die Sinne, doch zuvor merkte sie noch, dass dieses Fratzengesicht nicht der Einzige war, der sich auf sie legte und in sie eindrang.
*
Drei Jahre später in Tennweide am Steinhuder Meer
Als Justin Belfort seinen Wagen auf dem weitläufigen Dorfplatz mitten unter einer riesigen, jahrhundertealten Linde parkte und ausstieg, spürte er instinktiv, dass hier alles anders war als zu Hause. Er hob den Kopf in den Wind und witterte. Sogar die Rosensträucher, die den Platz säumten, verströmten einen anderen Duft, als er es von den drei kleinen Büschen im Vorgarten seines Reihenhauses in Hannover nahe der Universität gewohnt war. Ihn fröstelte, denn es war keine friedvolle Stille, es war das Schweigen eines Friedhofs.
Er wusste, dass eine schwere Aufgabe vor ihm lag, aber er hatte nicht vor, einfach aufzugeben, so wie es damals die Polizei getan hatte. Er hatte sich in das Foto verliebt, das in der alten Akte auf der ersten Seite eingeheftet worden war. Das blonde Mädchen auf diesem Bild hatte ihm den Kopf verdreht. Immer wenn er nicht darauf achtete, stahl es sich in sein Gehirn und flüsterte ihm zu. Flehentlich und leise.
»Hilf mir!«
Justin Belfort schloss die Wagentür und drehte sich langsam um. Der Ort war wie ausgestorben. Noch nicht einmal in dem Biergarten des großen Gasthauses vis-à-vis des Dorfplatzes, das sich an das Nachbargebäude schmiegte, sah man eine Menschenseele. Zum Klosterkrug stand auf einem schmiedeeisernen Schild über dem Eingang. Hier in diesem Ort hatte sich die Spur der Mädchen verloren. Niemand hatte je wieder etwas von ihnen gehört.
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