Carberry, der nun ebenfalls das Vordeck betreten hatte, stieß einen ärgerlichen Laut aus. „Eben, und bei denen weiß man nie, woran man ist. Sie können harmlos sein, aber genausogut können sie schon in den Büschen lauern, um uns anzufallen und uns die Gurgeln durchzuschneiden.“
„Das ist Schwarzmalerei“, sagte Smoky.
„Das ist die Wahrheit“, versetzte der Profos dumpf.
Sie blickten wieder zu den Inseln. Die große richtete sich nun immer wuchtiger aus den Fluten auf. Das imposante Bergmassiv in ihrem Zentrum war um die Gipfel herum von Wolkenstreifen gekrönt.
Fasziniert betrachteten die Seewölfe dieses Werk der Natur. Eine unerklärliche Aura haftete dem Eiland an, und je näher sich die „Isabella“ darauf zuschob, desto stärker wurde der Bann, in den die Männer sich gezogen fühlten.
Hasard suchte das Ufer mit Hilfe des Spektivs ab.
„Merkwürdig“, sagte er schließlich. „Die nordöstliche Küste ist pechschwarz wie verkohltes Holz, aber zum Südufer hin wird die Landschaft hell und lieblich. Ich sehe einen weißgoldenen Strand und Palmenwipfel.“
„Das Paradies auf Erden“, brummte Carberry. „Aber darauf falle ich nicht wieder ’rein. Macht euch auf Kopfjäger, feuerspuckende Berglöcher und bösartige Viecher gefaßt.“
Hasard blieb unbeirrt. „Wir runden die Insel im Süden und suchen nach einem Landeplatz. Wir ankern, fieren die Beiboote ab, und dann sehen wir weiter.“
Tatsächlich stießen sie etwa eine Stunde später an der Leeseite der großen Insel auf eine langgestreckte, von weißem Sandstrand gesäumte Bucht. Sie lud regelrecht zum Verweilen ein.
Hasard dirigierte seine „Isabella“ hinein, und das schwarze Schiff folgte ihm. Smoky lag bäuchlings auf der Galionsplattform und lotete die Tiefe aus. In regelmäßigen Zeitabständen gab er die Daten weiter: „Elf Faden – zehneinhalb – zehn – zehn …“
Als sie die Mitte der Bucht erreicht hatten, war die Wassertiefe gleichbleibend und pendelte um das Zehn-Faden-Maß. Der Seewolf atmete auf. Die Gefahr, auf Grund zu laufen, bestand nicht mehr.
„Fallen Anker!“ rief er.
„Fallen Anker!“ brüllte Ed Carberry, und kurz darauf ertönte der Befehl auch auf dem schwarzen Schiff.
Die schweren Stockanker rauschten an ihren Trossen aus, schwebten im klaren Wasser bis auf den Grund und bohrten sich in den hellen Sand. Der Seewolf beugte sich nach vorn, blickte nach unten und konnte Trosse und Buganker verschwommen in der Tiefe erkennen. Die See glitzerte wie flüssiges Kristall.
Hasard sah zum Ufer und beobachtete, wie sich die Palmenwipfel in einer leichten Brise wiegten. Ein Vogel schwebte über dem Grün des Binnenlandes. Die Szene atmete Frieden, Ausgeglichenheit, Harmonie. Dies schien tatsächlich das Paradies auf Erden zu sein.
Carberrys barsche Stimme rief in die Wirklichkeit zurück. „Fiert ab die Beiboote, ihr müden Säcke! Wollt ihr wohl spuren, oder muß ich euch anlüften? Habt ihr das verlernt, ihr triefäugigen Kakerlaken? O, ihr Faulenzer, ihr Rübenschweine, wenn man euch nicht dauernd den Marsch bläst! Ich hab’s ja schon immer gesagt, euch hat eine Wanderhure vor der Kirche verloren …“
So ging das weiter, bis die Beiboote endlich im Wasser lagen und bemannt waren. Hasard landete mit zwei Jollen und einem Dutzend Männern. Er wollte die Insel gründlich erkunden, um vor Überraschungen sicher zu sein.
Siri-Tong ließ ebenfalls zwei Boote an Land pullen. In dem ersten saß sie selbst. Ihre Begleiter waren die fünf Wikinger, der Boston-Mann und Mike Kaibuk. Das zweite Boot war unter anderem mit den beiden Portugiesen, Muddi und Tammy bemannt.
Juan hatte bis zur Rückkehr der Roten Korsarin das Kommando auf „Eiliger Drache über den Wassern“ übernommen. Im Vormars hockte noch immer Missjöh Buveur.
Dan O’Flynn war als Ausguck auf der „Isabella“ zurückgeblieben, obwohl er natürlich lieber an der Erforschung der Insel teilgenommen hätte. Die Rolle des Kapitäns hatte während Hasards Abwesenheit Ben Brighton inne.
Hasard sprang als erster übers Dollbord seines Bootes an Land. Ihm folgten Carberry, Shane, Ferris, Blake und Batuti. Gemeinsam zerrten sie das Boot durchs Flachwasser auf den Sandstrand. Knirschend schob sich der Rumpf auf den Untergrund.
Siri-Tong war nun auch eingetroffen. Nach ihr landeten die anderen beiden Boote. Siri-Tong lief zu Hasard. Sie trug ihre weißleinenen Schifferhosen und eine dazu passende weiße Bluse, die zwei Knöpfe weit offenstand.
Dicht vor dem Seewolf blieb sie stehen und lächelte ihn an.
Die Brandung rollte gegen das Ufer an, weiße Schaumstreifen umspülten ihre Stiefel. Große Wellen umkränzten die Insel von allen Seiten, nur hier, in der Bucht, waren sie etwas flacher. Ihr Rauschen klang unterschwellig und bildete die tönende Kulisse bei der kurzen Unterredung der beiden Kapitäne.
„Da wären wir also“, sagte Siri-Tong. „Ist es nicht herrlich hier? Ich schlage vor, wir bleiben ein paar Tage auf der Insel und erholen uns von der Langeweile der Überfahrt.“
„Erst mal schauen wir uns sehr genau um“, erwiderte Hasard. „Carberry meint, der Frieden täusche.“
Siri-Tong sah den Profos der „Isabella“ an. „Ed, warum denn so sauertöpfisch? Es ist doch nicht gesagt, daß wir immer und überall Verdruß kriegen.“
„Äh, Madame – wir haben doch unsere Erfahrungen, oder? Also, ich gebe mich lieber keinen Hoffnungen hin. Wenn dann doch alles in Ordnung ist, kann ich mich immer noch freuen.“ Er kratzte sich am Rammkinn und überlegte, ob das eine gute Rede gewesen sei. Kraftausdrücke waren nicht darin enthalten, aber trotzdem war er nicht ganz sicher.
„Trennen wir uns“, sagte der Seewolf. „Wir sind ein starker Trupp und können drei Parteien bilden. Die eine marschiert nach Norden, die zweite nach Süden. Die dritte Gruppe nimmt sich das Inselinnere vor. In spätestens drei Stunden treffen wir uns wieder hier bei den Booten.“
„Ich bleibe diesmal bei dir“, erklärte Siri-Tong. „Thorfin, du suchst dir neun Männer aus, die dich begleiten, der Rest geht mit dem Seewolf und mir.“
„Ed, du wählst auch deine Leute aus und übernimmst die Führung der dritten Gruppe“, ordnete Hasard an. „Ihr wandert nach Osten und nehmt den höchsten Berg als Markierungspunkt. Thorfin Njal und seine Männer wenden sich nach Süden. Wir anderen gehen jetzt nach Norden los.“
„Dann mal los“, brummelte der Profos. „Bin gespannt, wann wir auf den ersten Kannibalen oder das erste Ungeheuer stoßen.“
Sir John hatte sich ihm wie üblich angeschlossen und hockte auf Carberrys linker Schulter. Jetzt schien er sich die Sache aber anders überlegt zu haben. Mit einem heiseren Laut hob er ab und flog zur „Isabella“ zurück.
Hasard und die Rote Korsarin schritten an der Spitze der Nord-Gruppe dahin. Zunächst hielten sie sich in unmittelbarer Ufernähe. Etwas später drangen sie auf vier-, fünfhundert Schritt Distanz von der Küste ins Innere ein und bahnten sich einen Weg durchs Dickicht.
„Ein Glück“, sagte Ferris Tucker. „Ein richtiger Urwald ist das hier nicht. Man gelangt voran, ohne sich einen Pfad mit der Axt hauen zu müssen.“
„Warte ab“, erklärte Shane. „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.“
„Fängst du jetzt auch wie Carberry an?“
„Ach, Unsinn, ich meine doch nur …“
Sie hatten den Rand einer Lichtung erreicht, und der Seewolf blieb plötzlich stehen und hob die Hand. Sofort schwiegen die Männer. Sie duckten sich und zückten ihre Waffen. Siri-Tong hielt ihre wertvolle, reich verzierte Radschloßpistole und spannte langsam den Hahn. Es knackte leise.
Hasard trat auf die Lichtung. Er bückte sich und bedeutete den anderen, zu ihm zu kommen. Er wies auf Spuren und Relikte auf dem Untergrund.
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