„Am Zipperlein stirbt man nicht.“ Der Bretone schwieg einen Moment, dann verzog sich sein Gesicht zum Zerrbild eines Grinsens. „Ich hoffe, dein schwarzer Freund wird es überleben. Ich nehme an, ihr habt mir die Pest an den Hals gewünscht, aber irgendwann hätten wir uns wohl noch zusammengerauft.“
„Irgendwann? Der Seewolf hätte euch schneller zu Fischfutter verarbeitet, als ihr hättet denken können. Und dich hätte er ganz bestimmt wieder auf der verdammten Insel ausgesetzt.“
„Nicht an der Rahnock aufgeknüpft?“
„Glaube ich nicht“, sagte Dan nach einem kurzen Schweigen, „wir sind keine Mörder. Und wir sind auch keine Piraten, falls das in deinen Kopf geht.“
„Und was seid ihr dann?“
„Freibeuter“, sagte Dan O’Flynn stolz. „Freibeuter mit einem Kaperbrief der Königin von England! Wir kämpfen für unser Land.“
„Amen“, sagte Jean Morro. Und nach ein paar Sekunden: „Mein Vaterland hat mir das leider nicht erlaubt. Und meinen Männern auch nicht! Die meisten von uns sind Hugenotten und in Frankreich wegen ihres Glaubens verfolgt worden. Aber auf der freien See fragt niemand danach, auf welche spezielle Art jemand zu seinem Herrgott betet. Auf See sind die Menschen gleich! Dein schwarzer Freund genauso wie Jacahiro und wir alle.“
„Du hättest Prediger werden sollen“, sagte Dan trocken.
Der Bretone lächelte. Für einen Moment tanzten silbrige Funken in seinen grauen Augen.
„Vielleicht“, sagte er sehr leise. „Du bist dran, glaube ich. Mach’s gut, Dan O’Flynn!“
„Mach’s gut, Jean Morro!“
Dans Muskeln spannten sich.
Er sah die beiden hünenhaften Maya-Krieger auf sich zutreten, und es kostete ihn Mühe, einen Moment der heißen, verzweifelten Schwäche zu überwinden. Das wilde Grinsen des Bretonen half ihm. Er schüttelte die Fäuste ab, die nach ihm greifen wollten, und trat mit stolz erhobenem Kopf auf den Opferblock zu.
Der schwarze Stein war noch verfärbt vom Blut Jacahiros.
Dan starrte den Priester an, der sich umgewandt hatte und das Opfer ansah. Ihre Blicke kreuzten sich. Die dunklen Augen des Maya funkelten flüchtig auf. Ganz leicht neigte er den Kopf, und Dan wußte, dies war ein Zeichen des Respekts für den Mut des Opfers.
Im nächsten Moment schien sich das Gefühl des Unwirklichen wie ein Schleier zwischen ihn und die Umgebung zu senken.
Fäuste packten ihn, warfen ihn auf den Opferblock und hielten ihn fest. Dan spürte die Kälte des schwarzen Steins in seinem Rücken. Das Dröhnen der Trommeln schien sich in seinen Ohren zum Orkan zu verstärken. Trotzdem hörte er noch die Schritte des Priesters, die sich gemessen näherten. Ein Schatten fiel über den Opferstein.
Dan sah die hochaufgerichtete Gestalt in den wallenden Gewändern, deren blutiges Rot sich mit der karmesinfarbenen Glut des Sonnenuntergangs mischte. Die dunkle gutturale Stimme der Maya schien zu singen und wiederholte seltsam monoton immer dieselben unverständlichen Worte. Dann hob der Priester mit einer feierlichen Gebärde die Hand – und Dan sah das lange, gekrümmte Messer in seiner Rechten.
Ein blutiges Messer! Dazu bestimmt, dem Opfer des schrecklichen Rituals bei lebendigem Leibe das Herz aus dem Körper zu schneiden.
Der Priester rief etwas.
Die Trommeln verstummten.
Jäh fuhr das Messer nieder und Dan O’Flynn schloß die Augen und spannte sich mit jeder Faser, um diesen letzten schrecklichen Moment zu ertragen.
Die Sekunden dehnten sich.
Endlos.
Dan hörte ein seltsames Geräusch, einen dünnen Knall, aber er war nicht fähig, ihn richtig einzuordnen. Jeder Nerv und jede Faser seines Körpers war vorbereitet auf den letzten, entscheidenden Augenblick. Zwei Ewigkeiten vergingen: Sehr fern hörte Dan einen vielstimmigen Aufschrei – und da erst öffnete er wieder die Augen.
Der Priester!
Hoch aufgerichtet stand er da, das blutige Messer in der Rechten. Aber das Messer raste nicht nieder. Der Priester schwankte, einen ungläubigen, fast törichten Ausdruck in den Augen. Sein Gesicht verzerrte sich – und jetzt erkannte Dan das kleine schwarze Loch genau auf der Stirn seines Gegners.
Der Priester fiel.
„O’Flynn!“ brüllte der Bretone mit sich überschlagender Stimme.
Dan begriff überhaupt nichts, aber das hinderte ihn nicht daran, auf dem Opferstein hochzuschnellen und dem nächstbesten Maya mit voller Wucht den Kopf in den Magen zu rammen.
Blitzartig ließ Philip Hasard Killigrew die zweischüssige sächsische Reiterpistole im Gürtel verschwinden.
Er sah den Oberpriester der Maya fallen. In letzter Sekunde hatte er dem Kerl eine Kugel in den Kopf geschossen, bevor er Dan O’Flynn das Messer ins Herz stoßen konnte. Wie ein Tornado jagte der Seewolf die endlose Treppe hinauf, und hinter ihm stürmten Stenmark, Matt Davis, Big Old Shane und die beiden Piraten, die sich wider Erwarten doch noch ermannt hatten, für ihren bretonischen Kapitän zu kämpfen.
Auch Yuka stürmte mit.
Es war ihm gleich, ob seine Landsleute ihn erkannten und in Zukunft als Abtrünnigen behandeln würden. Er hatte sich entschieden und sich auf die Seite der Seewölfe gestellt. Im Augenblick hatte Hasard andere Sorgen, als über die Zukunft des Maya zu grübeln.
Oben auf der Spitze der Pyramide schnellte Dan O’Flynn wie ein Kastenteufel von dem Opferstein hoch.
Der Bretone reagierte gleichzeitig.
Seine Hände waren gefesselt, aber das konnte ihn nicht sonderlich beeindrucken. Er hatte die Füße frei. Zweimal trat er blitzartig zu. Zweimal wirbelten Maya-Priester in wallenden roten Roben durch die Luft – und dann bewies Jean Morro, daß er in der Tat ein ausgekochter, von allen Hunden gehetzter, mit allen Salzwassern der sieben Meere gewaschener Pirat war.
Wahrscheinlich war es nur natürlich, daß er die Situation um eine Kleinigkeit schneller erfaßte als Dan O’Flynn.
Der Bretone handelte.
Und Hasard registrierte, daß er zumindest in diesen Sekunden durchaus nicht egoistisch handelte.
Mit einem Panthersatz warf er sich gegen Dan O’Flynn. Beide Männer verloren das Gleichgewicht, stürzten und rollten die endlose Treppe hinunter. Sie rollten auf die Seewölfe zu – und genau das war das einzig Vernünftige, was sie in ihrer Situation noch tun konnten.
Dan O’Flynn kollerte Hasard direkt vor die Füße.
Der Seewolf hielt den Degen in der Faust. „Still!“ zischte er. In einem Befehlston, gegen den es schon von jeher keinen Widerspruch gegeben hatte. Dan erstarrte und rührte sich nicht mehr. Hasard hatte Gelegenheit, blitzschnell seine Fesseln mit dem Degen zu zerschneiden.
Gleichzeitig fing Matt Davies den stürzenden Jean Morro mit seinem Haken auf, und Stenmark stürzte sich mit dem Messer über die Fesseln des Bretonen.
Die Gefangenen waren frei, noch bevor die Maya-Krieger überhaupt begriffen hatten, was da passierte.
Woher der Wind wehte, brauchte Dan und Jean Morro niemand zu erzählen. Der blonde O’Flynn raste die endlosen Treppenstufen abwärts wie ein Teufel. Der Bretone brachte es noch fertig, dem „anderen Burgunder“ im Vorüberlaufen krachend die Faust auf die Schulter zu schlagen. Denn der „andere Burgunder“ war über seinen Schatten gesprungen, genau wie der einäugige Esmeraldo, genau wie die Seewölfe, für die das im Grunde selbstverständlich war – und während der wahnwitzigen Flucht über die Stufen der Pyramide verzerrten sich die Gesichter der Männer zu einem unsinnigen, aber nicht wegzuleugnenden Ausdruck wilder Freude.
Die Zuschauer am Fuß des Tempelbaus sahen ihnen entgegen.
Nach Hasards Schätzung waren es an die zweihundert Maya-Krieger, die zu den Waffen griffen. Zweihundert gegen neun! Aber zweihundert Männer konnten sich rein technisch nicht gleichzeitig auf neun zu allem entschlossene Kämpfer werfen. Und Hasard, Yuka, die drei Piraten und die anderen Seewölfe waren durchgebrochen, bevor die Maya auch nur begriffen, daß sich da ein winziges Grüppchen gegen ihre starke Armee gestellt hatte.
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