Die gepflasterten Straßen und Gassen waren menschenleer. Stille lag über der Stadt, eine drückende, gespenstische Stille, die sich wie ein Mantel auf die Männer senkte und in den dunklen, schwermütigen Augen des Maya etwas wie Furcht aufflakkern ließ.
„Sie sind alle auf dem Tempelplatz versammelt“, sagte er leise. „Das heißt, daß das Ritual beginnt, daß das Opfer bevorsteht.“
„Und wo könnten die Gefangenen stecken?“ fragte Hasard mit belegter Stimme.
„In den Käfigen! Rasch! Wir müssen uns beeilen!“
Yuka lief voran.
Mit traumwandlerischer Sicherheit führte er die Seewölfe durch das Gewirr der ausgestorbenen Gassen. Sie näherten sich dem Zentrum der Stadt, dem gigantischen Tempelbauwerk, dessen Spitze im Licht der untergehenden Sonne rot glühte. Ein großer freier Platz öffnete sich vor ihnen, der die riesige Pyramide umgab.
Yuka wandte sich nach rechts, die Seewölfe folgten ihm, und Sekunden später blieben sie stehen wie vom Donner gerührt.
Vor ihnen, auf einem langgestreckten, gemauerten Sockel, stand eine Reihe von zwölf stabilen hölzernen Käfigen.
Einer davon bestand nur noch aus Trümmern. Die anderen, übermannshoch und völlig schmucklos, sahen so aus, als seien sie dafür bestimmt, große Raubtiere aufzunehmen, Jaguare zum Beispiel. Aber die Maya hatten keine Tiere hineingesperrt, sondern Menschen.
Hasard atmete tief durch, als er die Gefangenen erkannte.
Der einäugige Esmeraldo!
Der Bursche, den die Piraten den „anderen Burgunder“ genannt hatten!
Und Batuti! An Händen und Füßen gefesselt und zusätzlich mit dem Oberkörper an die Gitterstäbe gebunden.
Batuti mußte es gewesen sein, der einen der Käfige zu Kleinholz verarbeitet hatte. Dem hünenhaften Neger war das zuzutrauen, und inzwischen mußten das, wie die Verschnürung bewies, wohl auch die Maya eingesehen haben.
Hasard preßte die Lippen zusammen.
Sein Blick flog zu dem Tempelbauwerk hinüber, zu der schweigenden Menschenmenge, die ihnen den Rükken wandte und irgend etwas auf der obersten Plattform der Pyramide beobachtete, etwas, das die Seewölfe nicht genau erkennen konnten. Sie sahen nur Gestalten in blutroten Gewändern, Bewegung, der etwas eigentümlich Gemessenes, Feierliches anhaftete, und Hasard hatte das unheimliche Gefühl, daß sie keine Sekunde mehr verlieren durften.
Mit zwei Schritten stand er vor den hölzernen Käfigen.
„Keinen Laut!“ zischte er. „Wer jetzt Lärm schlägt, dem drehe ich persönlich den Hals um! Yuka!“
Batuti hatte sich mit einem Ruck aufgerichtet.
Er öffnete den Mund – und schloß ihn wieder. Seine Augen rollten. Neben ihm kauerte der einäugige Esmeraldo in seinem Käfig, als sei er zu Stein erstarrt. Der „andere Burgunder“ schnappte nach Luft, schlotterte an allen Gliedern vor Schrecken, aber selbst er brachte es fertig, sich still zu verhalten und keinen Laut von sich zu geben, der die Maya hätte alarmieren können.
Yuka hatte ohne ein weiteres Wort verstanden.
Rasch lief er auf Batutis Käfig zu und untersuchte das Schloß. Es wirkte fremdartig und bestand aus seltsam geformten Stäben, aber Hasard hatte mit einem Blick erkannt, daß es wie ein primitives Vorhängeschloß funktionierte. Yuka wandte sich um und vollführte eine resignierende Geste.
„Ich kann es nicht öffnen. Man braucht einen Schlüssel!“
„Moment mal!“
Big Old Shane war es, der den Maya beiseite schob und dem Schloß einen kurzen, prüfenden Blick widmete.
Seine riesigen Pranken packten zu, schlossen sich um zwei der Metallstäbe, begannen zu zerren. Shanes mächtiger Brustkasten wölbte sich unter einem tiefen Atemzug. Seine Muskeln schwollen, die Schläfenadern traten wie Stränge hervor. Der frühere Schmied von Arwenack war ein Kerl, der schon wildgewordene Bullen mit einer Hand gezähmt hatte – und dem war auch das äußerst widerstandsfähige Schloß nicht gewachsen.
Mit einem metallischen Schnappen gab es nach.
Shane zerrte es aus der Öse, schob es in die Tasche und wandte sich sofort dem nächsten Käfig zu. Und der blonde Stenmark war es, der hastig die Tür öffnete und sein Messer zog, um Batuti von den Fesseln zu befreien.
Shane hatte den zweiten Käfig geknackt, als der hünenhafte Gambia-Neger die Reste der zähen Lederriemen abschüttelte.
Batutis Gesicht sah grau aus. Jetzt erst bemerkte Hasard, daß der schwarze Herkules verletzt war, übersät mit blutigen Kratzern, Prellungen und Platzwunden. Jeder andere Mann hätte sich in diesem Zustand vermutlich kaum noch auf den Beinen halten können. Aber Batuti schien alle diese Blessuren nicht wahrzunehmen.
Er taumelte nur leicht, als er aus dem Käfig sprang, fing sich aber sofort wieder. Mit zwei Schritten stand er vor Hasard und packte ihn am Arm – auf eine Art, daß der Seewolf das Gefühl hatte, in einem Schraubstock festzusitzen.
„Kleines Dan!“ krächzte der schwarze Herkules. „Kleines Dan und Bretone oben auf Tempel. Maya wollen sie opfern, wollen ihnen Herz herausschneiden …“
Die Worte schienen wie Hammerschläge in die Stille zu fallen.
Hasards Gesicht wurde fahlweiß. Big Old Shane fuhr herum, das wilde, bärtige Gesicht zu einer Maske verzerrt. Die Züge von Matt Davies und Stenmark versteinerten, und Yuka, der Maya, schloß für einen Moment die Augen.
Nur der Bruchteil einer Sekunde verstrich, aber den Männern erschien er wie eine Ewigkeit. Erst die dünne, zitternde Stimme des „anderen Burgunders“ weckte sie aus der Erstarrung.
„Bitte!“ flüsterte der Mann. „Holt mich hier ‚raus! Laßt mich nicht zurück! Bitte …“
Hasards Zähne knirschten aufeinander. Er starrte Shane an, und seine Stimme klang wie brechender Stahl.
„Hol ihn ’raus“, sagte er hart. „Wir brauchen jeden Mann! Wir werden kämpfen müssen.“
Dumpf und unheilvoll begannen die Trommeln zu dröhnen.
Dan O’Flynn preßte die Lippen zusammen. Mit auf den Rücken gebundenen Händen stand er neben dem ebenfalls gefesselten Bretonen. Jean Morros Gesicht hatte sich verkantet, seine grauen Augen wirkten hart wie Felsgestein. Der Bretone hatte Mut. Er wußte, daß er verloren war, und er würde wie ein Mann sterben.
Dan wandte den Kopf und lächelte matt. Seit sie hier oben auf der Spitze der Tempelpyramide standen und den rituellen Vorbereitungen für die Opferung zusahen, hatte sich zwischen ihm und dem Piratenkapitän etwas wie ein Band stummen Einverständnisses gebildet.
Das gemeinsame Schicksal schmiedete sie zusammen. Sie waren Feinde gewesen und hatten gegeneinander gekämpft, aber jetzt und hier spürten sie beide, daß sie im Grunde aus dem gleichen Holz geschnitzt waren. Aus einem harten Holz. Jenem Holz, aus dem Männer gemacht waren, die die tobende See nicht zerschlagen konnte und die noch dem Teufel trotzten.
Und, seltsam genug, schienen das auch die Maya zu spüren, die weit davon entfernt waren, ihre Gefangenen quälen und demütigen zu wollen, sondern sie im Gegenteil mit sichtlicher Achtung behandelten.
Weil sie würdige Opfer waren?
Weil sie nicht schrien und jammerten, keine Furcht zeigten, sondern das Unvermeidliche mit Fassung trugen?
Dan wußte es nicht. Im Grunde war es ihm auch gleichgültig. Er hatte mit seinem Leben abgeschlossen. Es würde kein schöner Tod sein, den er fand, kein Tod im Kampf, wie er ihn sich manchmal vorgestellt hatte, aber in diesen endlosen Minuten des Wartens wurde ihm klar, daß dies vielleicht eine letzte Bewährungsprobe war – größer, als irgendein Kampf auf Leben und Tod sie bieten konnte.
„Meine Schuld“, sagte der Bretone neben ihm leise. „Es tut mir leid, daß ich dich da hereingezogen habe, Dan O’Flynn.“
„Unsinn, Jean Morro. Immer noch besser, als am Zipperlein zu sterben, oder?“
Читать дальше