Selbst Carberry, Ferris Tucker, Shane und Old O'Flynn, die mit zu den härtesten Kerlen an Bord der »Isabella« zählten, konnten sich nicht mit dem grausamen Ende der Freiin abfinden. Sie hatten sich auf die vordere Gräting des Quarterdecks sinken lassen, gleich vor dem achteren Gangspill. Old O'Flynn zog eine so grämliche Miene, als wolle er jeden Moment losheulen – und er war auch tatsächlich kurz davor.
»O Himmel«, sagte er heiser. »Warum mußte das passieren? Sagt mir, daß es nicht wahr ist.«
Carberry blickte nur starr vor sich hin und murmelte etwas Unverständliches. Wie sehr hatte er Gisela von Lankwitz verehrt! Durch die Hölle wäre er für sie gegangen – und jetzt das! Er konnte es nicht fassen.
Ferris hatte den Kopf in die Hände gestützt und hüllte sich in dumpfes Schweigen. Big Old Shane schlug sich immer wieder in ohnmächtiger Wut mit den Fäusten auf die Knie, daß es ihm weh tat.
»Warum stellen wir kein Aufgebot zusammen?« stieß er hervor. »Warum nicht? Warum hetzen wir diese dreckigen Hunde nicht mit dreißig Mann? Ich will ihnen die Knochen brechen. Ich will sie töten!«
»Dan und Piet werden sie fassen«, sagte Roger Brighton, der sich eben zu ihnen gesellte, leise. »Wir können uns fest auf sie verlassen, es gibt keine besseren Männer für die Verfolgung der Mörder. Sie bringen sie hierher zurück – und dann ziehen wir die Hundesöhne langsam an der Großrah hoch.«
»Ja«, sagte Old O'Flynn. »Aber was nutzt das noch? Davon wird die Freiin auch nicht wieder lebendig.«
So dachten auch die anderen Männer an Bord der »Isabella«, von Smoky, dem Decksältesten, bis hin zu Hasard junior und Philip junior, den Zwillingen, die sich in die Kombüse gehockt hatten und ihre Tränen nicht mehr zurückhielten.
Auch die Männer der »Wappen von Kolberg«, die abwechselnd bei Gisela von Lankwitz Totenwache hielten, wußten, daß die Bestrafung der Meuchelmörder nicht das wiederherstellen konnte, was gewesen war: das Glück von Arne und Gisela, die Pläne für die Zukunft, die sie gemeinsam geschmiedet hatten, die Heiterkeit und die Zufriedenheit, die allein ihre Anwesenheit überall verbreitet hatte. Damit war es aus. Das schwarze Antlitz des Todes hatte jede Hoffnung aus ihren Herzen verbannt.
Hasard und Renke Eggens berieten miteinander, Nils Larsen blieb als Übersetzer bei ihnen. Sie mußten rasch beschließen, was zu tun war, sie konnten nicht einfach nur dastehen und sich in ihre finsteren Rachegedanken verstricken.
»Wir müssen einen Boten zu den Eltern der Freiin schicken«, sagte Hasard. »Es ist unsere Pflicht, sie sofort von dem zu unterrichten, was passiert ist. Ich glaube, es ist das beste, wenn ich diese Aufgabe übernehme.«
Renke hob abwehrend die Hand. »Nein, nein. Ich kenne die Lankwitzens persönlich, und als Erster Offizier Arnes fällt es selbstverständlich mir zu, sie aufzusuchen. Es ist ein trauriger Botengang, aber je eher ich aufbreche, desto besser ist es.«
»Sicherlich werden die Eltern wünschen, daß ihre Tochter in dem Familiengrab beigesetzt wird«, sagte der Seewolf. Wieder war dieses Würgen in seiner Kehle, er konnte kaum noch sprechen. Er hustete und wandte sich dann noch einmal an Renke Eggens, bevor dieser die »Wappen von Kolberg« verließ.
»Während deiner Abwesenheit fange ich mit den Ermittlungen an, Renke«, sagte er. »Wir müssen wissen, wer die Attentäter waren. Und ich kriege es heraus, noch ehe Dan und Piet mit ihnen zurückkehren.«
Renke verließ das Schiff. Er mußte sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnen, die sich inzwischen stumm auf der Pier eingefunden hatte. Hasard blickte ihm nach und überlegte sich, ob er die Leute fortschicken sollte. Doch er konnte es nicht tun. Sie schienen nicht nur neugierig zu sein. Echte Trauer zeichnete sich auch auf ihren Mienen ab, die meisten von ihnen hatten die Freiin von Lankwitz sicherlich gekannt.
Hasard ging zu Ben, der an der Stelling der »Wappen von Kolberg« auf ihn wartete.
»Wer war der hinterhältige Schütze?« fragte er ihn. »Hast du eine Ahnung, Ben?«
»Nicht die geringste. Ich überlege schon dauernd, aber es will mir nicht einfallen, wer es gewesen sein könnte. Hatte die Freiin in Rügenwalde Feinde? Ich glaube es nicht.«
»Ben«, sagte der Seewolf. »Ich denke an etwas ganz anderes. Wer immer den Schuß abfeuerte, wollte uns strafen. Er ist unser Gegner, nicht der der Freiin. Vielleicht gehört er zu Witold Woydas Leuten.«
»Ein Pole, hier? Nein, unmöglich.«
»Nichts ist unmöglich«, sagte der Seewolf, dann sprach er mit Arnes Leuten. Anschließend ging er auf die »Isabella« hinüber und unterhielt sich eingehend mit seiner Crew. Doch keiner wußte, wer der Meuchelmörder sein konnte. Bei dem Jubel über das unerwartete Auftauchen von Gary Andrews, den die meisten von ihnen bereits aufgegeben hatten, hatte keiner darauf geachtet, was an Land vor sich ging.
Offenbar waren Dan und Piet, die dem flüchtenden Mörder jetzt auf den Fersen saßen, die einzigen, die etwas beobachtet hatten. Mit finsteren und verschlossenen Mienen warteten die Männer auf ihre Rückkehr. Es herrschten Ratlosigkeit, Empörung und Erschütterung, keiner wußte so recht, was er tun sollte.
Dann aber erschien ein Mann auf der Pier, der sich dem Seewolf als der Hafenmeister von Rügenwaldermünde vorstellte. Er war aufgeregt, ja, so durcheinander, daß er kaum zusammenhängend sprechen konnte.
»Sie sind doch der Kapitän, nicht wahr?« stieß er hervor. »Also, passen Sie auf. Es ist ungeheuerlich, was vorgefallen ist. Ich kann es noch gar nicht fassen. Mein Gott, das arme Fräulein von Lankwitz – sie war immer so gut, so freundlich zu allen.«
»Bitte«, sagte Hasard. »Haben Sie etwas Verdächtiges bemerkt? Etwas, das uns bei der Suche nach den Tätern weiterhilft?«
»Allerdings. Es haben sich zwei Fremde in Rügenwaldermünde aufgehalten. Schon den ganzen Nachmittag über. Zwei Herren.«
»Herren?« wiederholte Hasard verdutzt.
»Ihrer Kleidung nach waren sie es. Ich habe sie nicht nach ihren Namen gefragt. Das ist ja auch nicht meine Aufgabe. Sie sind mit Pferden erschienen, nicht mit einem Schiff. Offenbar haben sie auf etwas gewartet.«
»Auf etwas?« wiederholte der Seewolf. »Auf ein Schiff? Auf unsere Schiffe?«
»Vielleicht«, erwiderte der Hafenmeister. »Ich weiß es aber wirklich nicht genau.«
Nils Larsen dolmetschte die ganze Zeit über wieder eifrig, und er übersetzte auch sofort die Worte des Mannes, der jetzt als nächster aus der Menge hervortrat. Seine nicht ganz weiße Schürze zeichnete ihn als das aus, was er war: der Wirt einer Schenke.
»Sie haben bei mir gegessen und Bier getrunken, zwei Kruken voll«, berichtete er. »Sie haben auch gut bezahlt und mir ein Trinkgeld dagelassen. Trotzdem haben sie keinem von uns gefallen.«
»Nein, keinem«, bestätigte ein Mann aus den Reihen der Zuschauer. »Wir waren froh, als sie wieder gingen.«
»Sie gingen wohl zum Hafen«, sagte ein vierter Mann.
Darauf trat der Fährmann vor, der auf den Schuß und das Geschrei hin ebenfalls zur Pier gelaufen war. Er berichtete, was er wußte – daß die beiden fremden Männer mit ihm gesprochen und ihn über Gary Andrews ausgehorcht, ihn bezahlt und zum Schweigen verpflichtet hätten.
Jetzt war wieder der Hafenmeister an der Reihe.
»Nachdem der Schuß gefallen war, habe ich sie zufällig an der Hafenmeistern vorbeilaufen sehen«, erklärte er hastig. »Sie hatten wohl an der Rückwand des Hauses ihre Pferde angebunden, denn dort sind sechs Eisenringe in die Mauer eingelassen. Sie saßen auf und jagten davon. Der eine hatte eine Muskete in der Hand – nein, zwei. Oder hatte der andere auch eine? Ich weiß es nicht genau.«
»Können Sie die Kerle beschreiben?« fragte Hasard.
»Nein. Dazu war es zu dunkel. Und am Nachmittag habe ich sie nur von weitem gesehen. Der eine war aber dicker als der andere«, entgegnete der Hafenmeister.
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