Hasard stürzte aus der Krankenkammer, in die er den ohnmächtigen Gary getragen hatte. Mit einem einzigen Blick erfaßte er die Situation, sah Gisela von Lankwitz vor der Stelling liegen und begriff, was passiert war.
Arne von Manteuffel hatte sich tief über seine Verlobte gebeugt und schützte sie jetzt mit seinem Leib. Doch es fiel kein Schuß mehr, wie er es in seinem Unterbewußtsein erwartet hatte. Er war wie von Sinnen und registrierte nur oberflächlich die dumpfen Hufschläge, die sich entfernten.
»Los!« schrie Dan O'Flynn. »Ich habe die Kerle gesehen!«
Piet Straaten schloß sich ihm an, und gemeinsam stürmten sie über die Stelling der »Isabella« von Bord. Ohne zu Zögern, liefen sie zu Garys Pferden, schwangen sich in die Sättel zweier Tiere und trieben sie an. Aus dem Stand sprangen die Pferde in den Galopp und jagten mit ihren Reitern davon.
Dan, der von allen Männern der »Isabella« die besten Augen hatte, glaubte, die Konturen von zwei Reitern in der Dunkelheit untertauchen zu sehen. Er preschte auf die Hafenmeisterei zu und an ihr vorbei, Piet hielt sich dicht hinter ihm. Im Nu waren auch sie verschwunden.
Arne von Manteuffel drehte Gisela von Lankwitz vorsichtig zu sich herum.
»Gisela«, flüsterte er zu Tode erschrocken.
Sie schaute zu ihm auf und lächelte. Ihre Lippen versuchten noch, Worte zu formen, doch es gelang ihr nicht mehr. Ihre Augen brachen, schlaff sank ihr schlanker Körper in sich zusammen.
»Gisela«, sagte Arne noch einmal. Er begriff nicht mehr, was um ihn herum vorging. Er verstand überhaupt nichts mehr und fuhr fort, auf sie einzureden. »Liebste«, flüsterte er. »Hab keine Angst, ich bin ja bei dir. Hast du Schmerzen? Nein, sag jetzt nichts. Es wird alles wieder gut, glaube es mir. Hörst du mich nicht? Allmächtiger Gott im Himmel, steh mir bei. Gisela – so antworte doch!«
Hasard tauchte neben ihm auf, und jetzt war auch der Kutscher zur Stelle. Beide waren kreideweiß im Gesicht. Der Kutscher kniete bei Arne und der Freiin nieder, und er sah sofort, daß sie tot war. Sein Blick hob sich und richtete sich in unsagbarer Erschütterung auf das Gesicht seines Kapitäns.
Auch Hasard wußte, daß es keine Hoffnung mehr gab. Der Schuß in den Rücken der Freiin hatte ihr Herz tödlich getroffen. Er spürte ein würgendes Gefühl in der Kehle, das ihm den Atem raubte. Langsam ballten sich seine Hände zu Fäusten, weiß traten die Knöchel hervor.
Der Kutscher schüttelte den Kopf, dann drückte er Gisela von Lankwitz behutsam und sanft die Augen zu. Schweigen hatte sich ausgebreitet. Keiner der Männer an Bord der Schiffe vermochte auch nur ein Wort zu sagen.
Erst jetzt begriff Arne. Er stöhnte auf und fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Er ließ die Hände wieder sinken und blickte ins Leere, seine Züge verhärteten sich, als wären sie aus Stein gemeißelt. So verstrichen Augenblicke.
Dann aber schien Arne von Manteuffel den Verstand zu verlieren. Er sprang unvermittelt auf und wollte zu einem der beiden Pferde stürzen, die auf der Pier zurückgeblieben waren.
Hasard war jedoch mit einem Satz neben ihm und stoppte ihn, indem er ihn an der rechten Schulter festhielt.
»Arne!« sagte er laut. »Bleib hier. Es hat keinen Zweck. Du kannst nichts tun. Dan und Piet haben bereits die Verfolgung der Kerle aufgenommen.«
Doch Arne verstand nicht, was er sagte, er konnte es nicht, denn Hasard war der deutschen Sprache nicht mächtig. Arne wollte aber auch kein Wort verstehen. Er gebärdete sich wie rasend. Plötzlich fuhr er zu seinem Vetter herum und versetzte ihm einen Stoß.
Hasard war darauf nicht vorbereitet. Er geriet ins Taumeln und strauchelte. Fast stürzte er zu Boden, erlangte das Gleichgewicht im letzten Augenblick aber doch wieder und lief Arne nach.
Dieser hatte das Pferd inzwischen erreicht. Doch als er seinen Fuß in den linken Steigbügel setzte, war der Seewolf wieder bei ihm und brachte ihn durch einen Jagdhieb zu Fall. Arne brach bewußtlos zusammen und blieb zu seinen Füßen liegen.
Ben Brighton hatte die »Isabella« ebenfalls verlassen und eilte zu seinem Kapitän. Sie blieben in der Dunkelheit nebeneinander stehen und blickten auf den reglosen Mann hinunter.
»Glaub nicht, daß ich es gern getan habe«, sagte Hasard verbissen.
»Ich weiß, daß du gezwungen warst, ihn niederzuschlagen«, sagte Ben. Er hatte selbst die größte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. Der jähe, völlig unerwartete Tod von Gisela von Lankwitz hatte ihn wie alle anderen zutiefst getroffen.
»Arne hat einen Schock erlitten«, sagte Hasard. »Ich will nicht, daß er in diesem verzweifelten Zustand losreitet und womöglich Amok läuft.«
Sie bückten sich nach Arne von Manteuffel, hoben ihn von der Pier auf und trugen ihn hinüber auf die »Wappen von Kolberg«. Hier wurden sie von einem erschütterten Renke Eggens und einem nicht minder betroffenen Hein Ropers erwartet, dem Ersten Offizier und dem Bootsmann Arnes. Sie waren beide nicht dazu in der Lage, auch nur ein einziges Wort zu sprechen.
Schweigend nahmen sie ihren Kapitän in Empfang und brachten ihn in den Achterdecksraum, der von ihm als Kapitänskammer übernommen worden war, nachdem sie das Flaggschiff Witold Woydas aus Reval entführt hatten.
Hasard und Ben folgten ihnen, hohl klangen die Schritte der Männer im Mittelgang des Achterkastells. Renke öffnete mit dem Ellenbogen die Tür zur Kammer, und sie betraten gemeinsam den Raum, der durch ein paar Streifen blassen Mondlichts erhellt wurde, die durch die Bleiglasfenster der achteren Wand fielen. Renke und Hein betteten Arnes immer noch bewegungslose Gestalt auf die Koje, dann zogen sie sich langsam zurück und drehten sich zu Hasard und Ben um.
Immer noch schweigend kehrten sie auf das Hauptdeck der Galeone zurück. Hier war inzwischen Nils Larsen eingetroffen. Er räusperte sich und stotterte fast, als er sprach.
»Ich – ich dachte mir – ihr könntet mich vielleicht als Dolmetscher gebrauchen«, sagte er.
»Ja«, sagte der Seewolf. »Ich will, daß du Renke und Hein erklärst, warum ich Arne niedergeschlagen habe.«
Nils wollte es Eggens und Ropers auseinandersetzen, doch der Erste winkte nur traurig ab.
»Wir haben alles genau gesehen«, sagte er. »Wir selbst hätten nicht anders gehandelt. In dem Zustand, in dem sich Arne jetzt befindet, schadet er nur sich selbst.«
»Paßt gut auf ihn auf«, sagte Hasard.
»Das werden wir tun«, versprach Hein Ropers. »Wir lassen ihn nicht aus den Augen.«
Auf einen Wink von Renke Eggens hin wurde die tote Gisela von Lankwitz von der Pier geholt. Vier Männer trugen sie über die Stelling an Bord der »Wappen von Kolberg« und ließen sie so behutsam auf der Kuhl nieder, als bestünde noch die Gefahr, sie könnte Schmerzen erleiden.
Wachen zogen auf. Es war eine beinah gespenstische Szene, erfüllt von tiefer Trauer und betretenem Schweigen. Alle Männer an Bord der beiden Schiffe stellten sich insgeheim die Frage, ob sie diese Tragödie nicht hätten verhindern können.
Jeder quälte sich mit Selbstvorwürfen, es gab keinen, der nicht bereit gewesen wäre, sein Leben für das von Gisela von Lankwitz zu opfern. Denn sowohl die Seewölfe als auch die Männer Arne von Manteuffels hatten sie in ihr Herz geschlossen. Sie hatte ihnen bewiesen, daß sie nicht nur schön, sondern auch liebenswert gewesen war, klug und bezaubernd zugleich. Jeder Mann wünschte sich solch eine Frau, doch für die meisten blieb sie ein Wunschtraum.
Doch jetzt war sie tot, die gemeine Tat hatte ihr Leben für immer ausgelöscht. Noch wollten viele, Männer die schreckliche Wahrheit nicht akzeptieren, noch war die Härte des Schlages so groß, daß sie wie gelähmt waren. Doch allmählich würden sie die bittere Realität annehmen müssen. Für keinen von ihnen würde es leicht sein, sie zu verarbeiten.
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