„Weil wir noch nicht an der Pier sind!“ rief Smoky zurück. „Schließlich können wir den Kahn ja nicht schieben.“
Alle fieberten dem Augenblick des Anlegens entgegen. Sie standen klar bei Leinen und schimpften verhalten, weil das Schiff ihrer Meinung nach zu langsam an die Pier lief.
Die „Wappen von Kolberg“ war noch hinter ihnen und hatte ihre Fahrt absichtlich verzögert. Auch Arne von Manteuffel war nicht entgangen, was da passiert war und daß der Totgeglaubte und Ertrunkene wieder fröhlich durch die Gegend ritt, als wäre nichts gewesen.
Deshalb ließ er den Seewölfen den Vortritt beim Anlegen und freute sich mit ihnen, die ganz aus dem Häuschen waren und sich so benahmen, wie er sie noch nie erlebt hatte.
„Unter den Burschen ist der Zusammenhalt einmalig“, sagte er zu Hein Ropers. „Da geht jeder für jeden durch die Hölle, ohne erst lange zu fragen. Auf die Kerle kann man stolz sein.“
Hein nickte versonnen. Ein ähnlicher Geist herrschte unter Arne von Manteuffel bereits auf der „Wappen von Kolberg“. Nur war er noch nicht so ausgeprägt wie bei den Seewölfen.
„Das werden sie heute feiern“, meinte er, „und wir haben allen Grund, kräftig mitzuhalten.“
Das war der Augenblick, in dem die „Isabella“ anlegte.
Niemanden hielt es mehr an Bord, obwohl es vernünftiger gewesen wäre, wenn Gary über die Stelling marschiert wäre. Aber von Vernunft war in diesem Augenblick keine Rede mehr.
Sie rannten Gary fast über den Haufen und schrien sich dabei die Kehlen heiser vor lauter Freude.
Inzwischen hatten sich eine Menge Zuschauer eingefunden, und nun, als das Gebrüll noch lauter wurde und die Kerle einen seltsam gekleideten Mann feierten und hochleben ließen, als sei der der liebe Gott persönlich, da kriegten es einige doch mit der Angst.
Aus den umliegenden Häusern strömten neugierige Leute heraus und starrten auf die seltsame Prozession. Einige andere schlugen die Fensterläden zu in der Meinung, eine Piratenhorde hätte den Hafen überfallen und säbele alles nieder.
So sah es von weitem auch tatsächlich aus. Da balgte sich eine ganze Horde auf der Pier, stob auseinander, lief wieder zusammen und schrie und heulte zum Gotterbarmen.
Gary Andrews befand sich plötzlich in der Waagrechten, als viele Hände ihn hochhoben und in die Luft warfen.
„Wir tragen dich aufs Schiff!“ brüllte Smoky. „Du kannst ja allein gar nicht mehr laufen!“
„Ich kann noch laufen“, protestierte Gary schwach.
Aber seine Worte gingen im Hurragebrüll der Arwenacks unter, und so fingen sie ihn auf und trugen ihn an Bord, wo sie ihn auf der Kuhl vorsichtig auf die Beine stellten.
Plymmie begann wie rasend zu kläffen. Arwenack flitzte von einer Ecke zur anderen, hockte sich vor Gary hin und schnitt Grimassen, als wolle er ihn aufheitern.
Angesteckt von dem wilden Gebrüll, sauste auch Sir John von der Großrah herunter und strich flatternd über das Deck. Dabei verhunzte er die menschliche Sprache wieder in allen Tonarten und ließ lästerliche Flüche vom Stapel, die er vom Profos gelernt hatte.
„Jetzt erdrückt ihn doch nicht!“ rief Ben Brighton. „Laßt ihn doch erst einmal verschnaufen!“
Jeff Bowie hatte Gary inzwischen den Schlapphut vom Kopf gerissen, ihn sich selbst auf den Kopf gesetzt und tanzte vor Freude wie ein Irrer herum.
Hasard schob sich mit energischen Handbewegungen durch das Gewühl seiner Männer. Er wirkte direkt ausgelassen. Kein Wunder, sie hatten ja auch einen Totgeglaubten wieder zurück, einen Mann, von dem sie angenommen hatten, daß er ertrunken wäre. Da war die Wiedersehensfreude ganz verständlich.
Und dann stand er vor dem hellblonden, hageren Gary Andrews, dessen schmales Gesicht von den zurückliegenden Strapazen gezeichnet war. Aber zäh und verbissen hatte er sich bis hierher nach Rügenwalde durchgeschlagen – noch dazu mit vier Pferden. Wo er die nur herhatte, dieser Kanonensohn!
„Gary“, sagte Hasard leise und verstummte wieder, weil er nicht weitersprechen konnte. Irgend etwas würgte ihm die Kehle zu.
Gary Andrews richtete sich etwas auf.
„Melde mich zurück an Bord, Sir“, sagte er heiser.
Und dann sackte er zusammen. Hasard konnte ihn gerade noch auffangen. Es war wohl doch alles ein bißchen viel für Gary gewesen.
Und darum trug der Kapitän seinen Fockmastgasten selber in den Krankenraum unter der Back …
Roy Palmer
Meuchelmord
Mit finsterem Blick musterte Erich von Saxingen von seinem Eckplatz in der Schenke aus die fünf anderen Gäste, die sich an diesem Nachmittag an den klobigen Eichenholztischen niedergelassen hatten.
Man schrieb den 4. April 1593, und es schien ein völlig ereignisloser Tag zu bleiben, der seinen Abschluß in grenzenloser Langeweile fand, hier, im Hafen Rügenwaldermünde, wie drüben in der Stadt Rügenwalde, die auf der anderen Seite der Wipper lag. Die Männer wechselten nur wenige Worte, keiner lachte. Der Wirt sah ihnen mit unbewegter Miene zu, er stand hinter seiner Theke und hatte die Ellenbogen auf der Kante der blankgewetzten Platte aufgestützt. Die einsilbig geführte Unterhaltung schlief ein und wich wieder einem anhaltenden Schweigen, das nur durch das Gluckern unterbrochen wurde, mit dem die Bierkrüge gefüllt wurden.
Auch von Saxingen stellte fest, daß sein Humpen leer war. So griff er nach der Kruke und schenkte nach, trank und wischte sich den Schaum mit dem Handrücken vom Mund. Er war schon leicht angetrunken, seine Augen waren gerötet. Doch die Zecherei bereitete ihm weitaus weniger Spaß als daheim auf dem Gut der von Saxingens in Estland. Es mangelte an der nötigen Stimmung, daran vermochte auch Bruno von Kreye nichts zu ändern, der soeben wieder die Gaststube betrat.
Erich von Saxingen leerte seinen Humpen, setzte ihn hart auf dem Tisch ab und füllte für Bruno von Kreye und für sich nach. Von Kreye ließ sich bei ihm nieder, ergriff den Humpen und trank mit konzentrierter Miene.
Dann sagte er: »Mit den Pferden ist alles in Ordnung. Ich habe ihnen eben nochmal zu saufen gegeben und ihre Futtersäcke neu gefüllt.«
»Gut«, sagte von Saxingen, aber seine Miene blieb mürrisch. »Zum Teufel, wir sind wohl dazu verdammt, noch Tage in diesem elenden Nest auszuhalten. So ein Mist. Hier ist nichts los, es scheint nicht einmal ein paar hübsche Weiber zu geben.«
Bruno von Kreye warf rasch einen Blick zu den anderen Anwesenden. Die hatten sich behäbig zu ihnen umgewandt und musterten sie scheinbar gleichgültig und ohne erkennbare Gemütsbewegungen. Doch von Kreye wußte, daß man sich vor ihnen in acht nehmen mußte.
»Sprich nicht so laut«, sagte er deshalb gedämpft zu seinem Freund. »Vergiß nicht, daß wir nicht auffallen wollen.«
»Diesen blöden Ochsen würde ich am liebsten was in die Fresse hauen«, murmelte von Saxingen und gab dadurch wieder einmal zu verstehen, daß er weder über die Ausdrucksweise noch über die Erziehung noch über die Haltung verfügte, die man von einem Adligen eigentlich erwartete. Er leistete sich die Allüren eines Junkers, wie es im übrigen auch sein Bruder Hugo tat, der seit einiger Zeit verschollen war und nach dem er suchte.
Auch von Kreye war da nicht anders. Und die anderen Großgrundbesitzer, die hoch oben zwischen Estland und Ingermanland nicht weit von der Narwa-Bucht entfernt ansässig waren und zu den Freunden der von Saxingens gehörten – die von Rammsteins, die von Berlepschs, Wolfraths und wie sie alle hießen! Keiner von ihnen erwies sich als rühmliche Ausnahme. Sie waren fast alle mies und verdorben und hatten nichts anderes zu tun, als der Jagd zu frönen, sich Saufgelagen und der Völlerei hinzugeben, ihr Gesinde zu kujonieren und den Frauen nachzusteigen.
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