Dan sah seine schmuddelige Jacke, darüber einen Schlapphut. Aber die Gestalt erschien ihm doch vertraut, wenn sie durch die Kleidung auch fast unkenntlich wirkte.
Da drehte der Mann auf dem Pferd sein Gesicht wieder und blickte genau zur „Isabella“ herüber.
„Verdammt!“ rief Dan O’Flynn verdattert. Er setzte den Kieker ab, rieb sich die Augen und hatte ihn gleich darauf wieder am rechten Auge.
„Was ist denn?“ fragte Ben erneut, und wieder erhielt er zu seiner Verwunderung keine Antwort.
Dan O’Flynn schluckte hart. Das Gesicht des Mannes! Verdammt, dachte er schluckend, das gibt es doch gar nicht. Ihm klappte glatt der Unterkiefer weg vor Verblüffung.
„Ich werd verrückt!“ schrie er. „Ich seh Geister!“
Dann schien Dan O’Flynn tatsächlich verrückt zu werden, jedenfalls benahm er sich so, als sei er jetzt durchgedreht.
Er warf dem verdutzten Ben Brighton den Kieker zu, riß die Arme hoch und vollführte zum Erstaunen aller eine Art Wildentanz auf.
Er schlug Hasard auf die Schulter, riß dem schweigend dastehenden Ben wieder den Kieker aus der Hand, linste hindurch und ließ das Ding einfach auf die Planken fallen.
„Ein Sonnenstich kann es nicht sein“, sagte Big Old Shane. „Vielleicht hat ihn was anderes gestochen.“
Auch der Seewolf blickte Dan an, als sei der von allen guten Geistern verlassen.
Dan setzte ein paarmal zum Sprechen an, brachte aber vor wilder Freude, Verblüffung und Staunen keinen Ton heraus. Dafür vollführte er wieder seinen verrückten Tanz.
„Gary!“ brüllte er dann. „Gary steht auf der Pier! Seht euch den Kerl mit den vier Pferden an! Das ist Gary Andrews!“
Ein paar der Seewölfe blickten erst peinlich berührt auf Dan, dann schluckten sie kräftig, und gleich darauf ging auf dem Achterdeck fast eine Prügelei um den Kieker los.
Hasard vergaß für Augenblicke das Schiff, riß den Kieker hoch und merkte, daß seine Hände zitterten. Die anderen standen ungeduldig und erwartungsvoll daneben.
Als er zur Pier hinübersah, da traf auch den Seewolf fast der Schlag, denn jetzt winkte der Reiter wie ein Wilder, riß die Arme hoch und begann zu brüllen.
„Gary!“ brüllte Hasard wild. „Es ist Gary, Leute!“
Was dann geschah, ließ den ganzen Hafen zittern. Auf der „Isabella“ war von einer Sekunde zur anderen der Teufel los.
Die Kerle hüpften auf dem Deck herum, brüllten so laut: „Arwenack!“, daß die Hafengebäude zitterten und einige Leute verstört aus den Häusern liefen, um nachzusehen, was da passiert sei.
Die meisten wollten es immer noch nicht glauben, rannten aufs Achterdeck, starrten hinüber und brüllten dann los.
„Gary ist wieder da!“ schrie Luke Morgan. „Den bringt wirklich nichts um! Der hat es geschafft!“
Gegenseitig hauten sie sich auf die Schultern, daß es nur so krachte. Ein Alptraum war von ihnen gewichen, und nun ging es keinem schnell genug, bis sie endlich anlegen konnten.
Matt Davies und Blacky, die die ganze Zeit mit verbiesterten und traurigen Gesichtern herumgelaufen waren, horchten ungläubig auf und rannten ebenfalls nach achtern.
„Stimmt das wirklich?“ fragte Blacky aufgeregt und mit knallrotem Schädel.
„Er ist es wirklich“, sagte Hasard lachend. „Es ist unser Gary, er hat es wirklich geschafft.“
„Kein Gespenst?“ vergewisserte sich Blacky noch einmal.
„Schau selbst durch den Kieker.“
Das tat Blacky auch, doch kaum hatte er einen Blick auf Gary Andrews erhascht, da riß ihm Matt Davies das Spektiv weg, blickte zum Land und riß jubelnd die Arme hoch.
So schnell war an Bord der „Isabella“ noch nie die Stimmung umgeschlagen. Erst zu Tode betrübt, jetzt himmelhoch jauchzend.
Aber es wurde noch verrückter, denn nun begann Blacky plötzlich zu spinnen und hatte es furchtbar eilig. Er hatte es so eilig, daß er in seiner Aufregung sogar vergaß, sich vorschriftsmäßig abzumelden.
Alle, die auf dem Achterdeck standen, waren vor Verblüffung starr, als Blakky mit einem lauten Freudengeheul einfach Anlauf nahm und mit einem wilden Satz über Bord hechtete. Im Wasser schlug er auf wie eine riesige Kanonenkugel und begann sofort wie ein Irrer zu paddeln.
Hasard starrte ihm nach, Old O’Flynn kratzte sich vor Verblüffung das Kinn und blickte ungläubig ins Wasser, wo Blacky mit wilden Schwimmbewegüngen zur Pier schwamm, im Wasser die Arme hochriß und vor Freude fast ersoff, weil er dauernd winkte und brüllte.
„Jetzt hat’s bei dem restlos ausgehakt“, meinte Carberry grinsend. „Der ist total verrückt geworden.“
„Laß ihn“, sagte Hasard lachend. „Ich kann es ihm wirklich nicht verübeln, er glaubt, er hat etwas gutzumachen.“
„Das glaube ich nämlich auch, Sir“, sagte der Hakenmann Matt Davies und nickte dem Seewolf grinsend zu.
Noch bevor ihn jemand daran hindern konnte, nahm er ebenfalls Anlauf und hechtete über Bord.
Big Old Shane schlug kopfschüttelnd die Hände vor das Gesicht.
„Die sind wirklich übergeschnappt“, murmelte er. „In ein paar Minuten legen wir doch sowieso an.“
„Die beiden haben wirklich gute Gründe“, sagte Hasard.
Er war jetzt wie ausgewechselt. Die Traurigkeit war aus seinen Zügen verschwunden, sein Rücken war nicht mehr gebeugt, er konnte endlich wieder lachen, und den anderen erging es ebenso. In den Gesichtern stand eine überschwengliche Fröhlichkeit.
Smoky trat nervös von einem Bein auf das andere und blickte mal ins Wasser, mal zur Pier hinüber. Dort rannte Gary aufgeregt hin und her, im Bach paddelte Blacky, der schon fast die Pier erreicht hatte, und ihm folgte Matt, der der langsam driftenden „Isabella“ ebenfalls vorausschwamm.
„Wage es ja nicht, jetzt auch noch über Bord zu gehen, du Quakfrosch“, sagte der Profos freundlich. „Wenn wir alle außenbords springen, wer macht dann das Schiff fest, was, wie?“
„Aber …“, sagte Smoky.
„Hier gibt’s kein Aber!“ blaffte ihn der Profos an. „Du bleibst an Bord, verstanden?“
Smoky grinste. „Verstanden“, sagte er und blieb an Bord.
Inzwischen hatte Blacky die Pier erreicht und zog sich an einer Eisenleiter hoch. Triefnaß enterte er auf, stürmte los und sauste in seinem Eifer prompt über einen der Hafenpolier. Er überschlug sich und war schon wieder auf den Beinen.
Dann begrüßten sich die beiden, hauten sich auf die Schultern und brüllten sich vor Freude an. Auf die anderen Leute nahmen sie keine Rücksicht. Wie zwei Irre tanzten sie über die Pier und lachten.
Auch Matt Davies enterte jetzt tropfnaß auf und wetzte los. Gleich darauf lagen sie sich zu dritt in den Armen.
Der sauertöpfische Mac Pellew grinste ebenfalls, und wenn er sein trauriges Gesicht zu einem Lachen verzog, dann sah er meist noch trauriger und melancholischer aus.
„Statt da rumzuschwimmen“, meinte er, „sollte man für den armen Kerl lieber was kochen, damit er was zwischen die Zähne kriegt. Muß ja halb verhungert sein, der Junge. He, was meinst du dazu, Kutscher?“
Der Kutscher nickte strahlend.
„Klar, damit er nicht gleich aus den Stiefeln kippt. Er kriegt natürlich was ganz Besonderes zur Feier des Tages. Was können wir ihm denn zubereiten?“
„Er ißt gern Pfannkuchen mit Sirup“, sagte Mac überlegend. „Jedenfalls sind wir ihm noch eine große Portion schuldig, weil es die am Tag nach seinem Verschwinden ja gab.“
„Dann hauen wir ihm welche in die Pfanne“, sagte der Kutscher.
Sie nickten sich beide zu und verschwanden gemeinsam in der großen Kombüse, um Pfannkuchen zu bakken.
„Wir backen ihm einen ganzen Laderaum voll“, sagte Mac.
„Und dazu kriegt er ein ganzes Faß Sirup.“
„Hopp auf, ihr Lahmärsche!“ motzte der Profos unterdessen an Deck herum. „Warum dauert das Anlegen denn ausgerechnet heute so lange?“
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