Nach und nach drehte er sich so weit im Wasser, bis seine Beine nach Norden zeigten. Er blickte jetzt nach Süden, doch da gab es nichts anderes zu sehen als in den anderen Himmelsrichtungen auch — nur Wasser, Schaum und Finsternis.
Jetzt kriegte er die Wellen von der anderen Seite, und diesmal war es die richtige. Erneut brauchte er eine ganze Weile, um festzustellen, daß er sich auch nicht irrte, denn der kleinste Irrtum in seiner Situation war absolut tödlich. Da würde er nicht zum Land schwimmen, sondern immer weiter auf See hinaus — so lange, bis ihn die Kräfte verließen und er jämmerlich absoff und sein Grab im Baltischen Meer fand.
Im Ententümpel, dachte er, im Heringsteich und wie sie die Ostsee noch bezeichnet hatten. No, Sir, sagte er sich, ein Gary Andrews, der ersoff nicht in einem Heringsteich, der suchte sich sein Seemannsgrab zwischen Korallen, wie es sich gehörte, aber nicht im Baltischen Meer, wo einen die Heringe und Dorsche verwundert anstarrten und wo man mehr auf Grund stand, als man lag.
Er grinste verkniffen und dachte diesen Gedanken zu Ende. War doch ganz lustig, von ein paar Miesmuscheln angestarrt zu werden und sich nach dem Tode vielleicht in der Aalreuse eines knorrigen Fischers wiederzufinden.
Erneut überschwemmte ihn ein hoher, harter Brecher und trug ihn ein ganzes Stück fort.
Verflucht lausig kalt wurde es nun. Die Beine waren schwer wie Blei, die Arme klamm und steif, und nachdem er sich daran gewöhnt hatte, im Wasser zu treiben, kehrte auch die Müdigkeit langsam wieder zurück.
Was mochten sie wohl jetzt auf der „Isabella“ tun? Na klar, die meisten lagen in ihren Kojen und grunzten zufrieden vor sich hin.
Aber Matt und Blacky mußte es doch, verdammt noch mal, eigentlich auffallen, daß seine Koje leer war. Oder waren sie so müde, daß sie sich einfach hinhauten, ohne nach links oder rechts zu sehen?
War ihm ja auch schon passiert, überlegte er. Man knautschte sein „Gute Nacht“ durch die Zähne, zog sich die Decke über die Ohren und war gleich weg. Besonders dann, wenn man die Lady ein paar Stunden bei Nacht durch die See gejagt hatte.
Verdammt merkwürdige Gedanken gingen ihm durch den Sinn. Ernsthaft fragte er sich, was es wohl zum Frühstück geben würde.
Pfannkuchen mit Sirup vielleicht? Vielleicht hielten sie für ihn eine Extraration zurück, weil sie wußten, daß er höllisch ausgehungert zurückkehren würde.
Quatsch war das, ausgemachter Blödsinn. Er dachte an dämliche Pfannkuchen mit Sirup, und dabei kämpfte er um sein Leben, schluckte immer wieder diese kalte, salzige Brühe und versuchte ständig, nicht vom Kurs abzuweichen. Wenn der Wind jetzt unmerklich drehte, fand er sich ohnehin nicht mehr zurecht, denn dann hatte er keinen Bezugspunkt mehr.
Aber diese Gedanken, mochten sie auch noch so verrückt sein, taten ihm wohl und lenkten ihn oft genug ab. Er gähnte mit geschlossenem Mund, bis seine Wangenmuskeln schmerzten.
Dann konzentrierte er sich mit aller Gewalt darauf, das Land im Süden zu erreichen, das noch in so weiter Ferne lag. Wieder rief er sich die Wache auf dem Achterdeck ins Gedächtnis zurück. Zehn oder fünfzehn Minuten nach dem Wachwechsel mußte die „Isabella“ auf den Steuerbordbug gehen, um nicht zu dicht unter Land zu geraten. Demnach konnte das Land eigentlich gar nicht so unendlich weit entfernt sein, redete er sich immer wieder ein. Vielleicht befand es sich schon ganz dicht vor ihm. Er sah es wegen der totalen Finsternis nur noch nicht.
Gary Andrews spürte, daß seine Arme immer schwerer wurden. Seine nach Norden gerichteten Beine lagen nicht mehr waagrecht im Wasser, sondern hingen durch. In den Kniekehlen hockte die Kälte wie Eis, die seine Bewegungen lahmer werden ließ. Bei jedem zweiten Atemzug geriet ihm Wasser in den Mund. Es brannte in den Augen, biß in der Nase und beizte seine Lippen. Hustend und Wasser spuckend schwamm er weiter. Eine Welle hinauf, dann wieder hinunter. Die dritte schlug wirbelnd und schaumig über ihm zusammen und drückte ihn dem Grund entgegen.
Jetzt schmerzte auch sein Nacken von der Kälte, und seine Glieder wurden immer schwerer.
„Da vorn ist die Küste!“ ächzte er. „Nur noch ein paar Kabellängen, dann bin ich an Land!“
Nach einer Weile verlor er auch das Zeitgefühl und wußte nicht mehr, wie lange er nun schon im Wasser schwamm. Es konnten Minuten, aber auch schon Stunden sein – eine Ewigkeit womöglich.
Vom Land war immer noch nichts zu bemerken, und als er sich einmal sinken ließ, fand er unter sich keinen Grund. Danach legte er sich auf den Rücken und ließ sich von den Wellen schieben.
Nach und nach erlahmten durch die Kälte seine Kräfte. Die Arme waren noch schwerer geworden, die Beine bewegte er mitunter kaum noch.
Dann kam die Zeit, da er glaubte, er würde es doch nicht mehr schaffen. Das Land war viel zu weit weg. Er verspürte wieder diese unheimliche Mattigkeit und hatte nur noch den Wunsch, endlos lange zu schlafen, sich auszuruhen. Gleichzeitig wurde auch der Fluß seiner Gedanken träger. Er dachte kaum noch etwas. Alles rückte wie in geisterhafte neblige Fernen. Gleichgültigkeit kam auf, und er hatte den Wunsch, sich einfach sinken zu lassen, aufzugeben, sich nicht mehr abzustrampeln, weil es ja doch nichts mehr einbrachte und keinen Sinn hatte.
Die Zeit tropfte endlos dahin. Eine Woge überrannte ihn. Er Verlor die Orientierung und schloß müde die Augen. Man kann sogar beim Schwimmen schlafen, dachte er schwach.
Aber das war dann auch gleichzeitig das Ende. Noch einmal riß er sich zusammen, stellte entsetzt fest, daß er unwillkürlich die Richtung gewechselt hatte, und verfiel fast in Panik, als er sich nicht gleich zurechtfand.
Ein verrücktes Ding war das. Augenblicklich war er munter und dachte in seiner ausweglosen Situation wieder an Pfannkuchen mit Sirup, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Dabei aß er sie gar nicht einmal so besonders gern, nur jetzt verspürte er seltsamerweise einen regelrechten Heißhunger darauf.
Solche verrückten Gedanken gingen einem wohl durch den Kopf, wenn man gleich jämmerlich ersoff.
Er schwamm weiter, bewegte sich aber kaum noch. Die Wellen stießen und schoben ihn, hoben ihn hoch, drückten ihn runter, spielten ihr tödliches Spiel mit ihm.
Gary kämpfte gegen sich selbst. Da war schon wieder diese abgrundtiefe Müdigkeit, die Kälte, die Schwäche, die aussichtslose Lage, doch noch das Land zu erreichen, und die geheime Angst, ausgerechnet vielleicht in eine tief ins Land schneidende Bucht zu schwimmen, die kein Ende nahm.
Einmal glaubte er das feine Klingen von weit entfernten Glocken zu vernehmen. Da war auch gleichzeitig ein ständiges Summen, das einschläfernd wirkte. Die Glocken klangen lauter, ihre Schläge waren dumpf und nachhallend, und in seinen Ohren war ein dunkles Brausen.
Er spürte, daß er unterging. Er konnte nicht mehr. Die Kraft fehlte ihm, um Arme und Beine zu bewegen. Es war, als hielte ihn jemand erbarmungslos fest und ließe ihn nicht mehr weiterschwimmen. Oder zog ihn jemand ganz bewußt in die Tiefe?
Er holte tief Luft, denn der Druck auf seinen Lungen wurde immer unerträglicher. In diesem Augenblick schien er von innen her zu explodieren. Statt der Luft sog er Salzwasser in seine Lungen, und ein höllisch brennender Schmerz weckte ihn augenblicklich.
Wie ein Wilder schlug er um sich, hustete, krächzte und spie das brennende Salzwasser aus. Ein rasender Kopfschmerz plagte ihn, und er schnappte mit einem irren Schrei erneut nach Luft, strampelte und begann, wie ein ertrinkender Hund zu paddeln.
Schlagartig erwachten seine Lebensgeister wieder. So deutlich wie eben hatte er den Tod durch Ertrinken noch nie gespürt. Nur noch ein weiterer falscher Atemzug, Wasser anstelle von Luft, und er hätte es nicht mehr durchgestanden.
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