Joslin fühlte, wie ihn die Angst übermannte und nicht mehr losließ. Bislang hatte er alle Hoffnung darauf gesetzt, daß der Seegang und der Wind sich etwas mäßigen würden, wenn sie mit der Galeone tiefer in die Mentawaistraße eindrangen. Jetzt aber sah er ein, daß er sich in diesem Punkt getäuscht hatte.
Und noch etwas trug erheblich zum Aufkeimen seiner Furcht bei: Er hatte den deutlichen Eindruck, daß er das Ruder nicht mehr lange halten konnte. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen den Kolderstock, der sich selbständig machen wollte und zu einer gefährlichen Waffe werden konnte, wenn er seinen Griff auch nur für einen Augenblick lockerte. Dann nämlich würde der hölzerne Hebel bis nach Backbord hinüberschnellen und ihm, Joslin, möglicherweise die Beine zerquetschen, wenn er sich nicht schnell genug in Sicherheit brachte.
Diese Aussicht war aber noch lange nicht das Schlimmste, was die Gedanken des Franzosen beschäftigte. Vor wenigen Minuten glaubte er ein verdächtiges Knacken und Knirschen im Gebälk der Ruderanlage vernommen zu haben, und er wußte, daß es keine Täuschung gewesen war.
Vielleicht hatte einer der Balken oder gar das Ruder selbst schon einen Knacks davongetragen – und was das hieß, hätte selbst ein weniger erfahrener Mann als Joslin gewußt.
Das Ruder konnte brechen. Dann würde der Südsüdwest-Wind die Galeone aus dem Kurs werfen und vor sich her nach Legerwall drücken, bevor der Kapitän und seine Männer auch nur die Chance hatten, das Ruder zu reparieren.
Dann fehlt nur noch ein Mastbruch, und wir sind geliefert, dachte der Franzose, dann wirft uns der Sturm auf die Küste oder auf ein Riff, oder aber der ganze Kahn schlägt quer und säuft ab.
Jetzt war er fast bereit, seine Meinung zu revidieren und neue, anderslautende Befehle zu geben, damit er das Schiff, die Ladung und die Mannschaft retten konnte. Aber er lag noch mit sich selbst im Widerstreit, denn er wagte sich nicht auszurechnen, wie viele Tage er möglicherweise vor der Küste von Sumatra festlag, wenn er nun doch aufgab, den Sturm abwettern zu wollen.
In seine Überlegungen hinein platzten Slacks und Calderazzo.
Rene Joslin sah sie durch einen Schleier von Gischt in den Manntauen auf sich zuhangeln. Sofort war ihm klar, was sie von ihm wollten. Calderazzo war ein guter Seemann, aber er konnte unberechenbar sein, wenn sein Temperament durchbrach. Heißblütig und schnell aufbrausend, wie er war, konnte dann Furchtbares passieren. Joslin hatte den Sizilianer in den Jahren ihres Zusammenseins ein paarmal deswegen maßregeln müssen, einmal, weil der Mann in seiner Wut fast zwei andere Decksleute niedergestochen hätte, die sich auf einen Streit mit ihm eingelassen hatten. Diese beiden hatten anschließend sehr schnell wieder abgemustert.
Slacks war deshalb ein unsicherer Kandidat, weil er schon mehrfach zu verstehen gegeben hatte, daß er die „Malipur“ bald wieder verlassen würde. Joslin konnte ihm das nicht unbedingt übelnehmen, aber er hatte den Verdacht, daß der Engländer die anderen Kerle noch gegen ihn, den Kapitän, aufwiegeln würde, ehe er ihnen ein für allemal den Rücken zukehrte.
Joslins Augen waren schmale Schlitze, als sich der Engländer und der Sizilianer vor ihm aufbauten. Seine Miene war hart und verschlossen.
„Was habt ihr hier zu suchen?“ rief er ihnen zu. „Ist euer Platz nicht unten im Laderaum?“
„Wir kämpfen da unten auf verlorenem Posten!“ schrie Slacks. „Das Wasser ist schneller und stärker als wir, und bald wird es an allen Ecken und Enden in den verdammten Kahn laufen – und wir wollen in der Brühe nicht ersaufen, Capitaine!“
„Kehrt sofort nach unten zurück!“
„Capitaine!“ brüllte Calderazzo gegen das Sturmtosen an. „Das können Sie von uns nicht verlangen! Sie wissen sehr genau, wie es um die ‚Malipur‘ bestellt ist! Deshalb verlangen wir von Ihnen, daß Sie …“
„Ihr habt gar nichts zu verlangen!“ fiel ihm der Franzose aufgebracht ins Wort. „Zum letzten Mal, räumt das Achterdeck, oder ich lasse euch wegen Befehlsverweigerung auspeitschen und einsperren!“
„Nein!“ schrie Slacks ihm ins Gesicht. „Nicht mit uns, Mann, denn bevor wir absaufen und von den Haien gefressen werden, haben wir noch ein Wörtchen mitzureden an dem, was aus uns wird!“
„Wir müssen eine Bucht anlaufen!“ rief der Sizilianer.
„Genau“, pflichtete der Engländer ihm sofort bei. „Wenn nicht, gehen wir mit diesem vergammelten Dreckeimer, diesem verrotteten Seelenverkäufer, alle Mann zum Teufel!“
„Wie nennt ihr mein Schiff?“ schrie Joslin. „Parbleu, das werdet ihr noch schwer bereuen.“ Er vollführte eine Körperdrehung, lehnte sich mit dem Rükken gegen den Kolderstock und hielt ihn auch weiterhin mit der linken Hand fest, tastete mit der rechten jedoch nach seiner Steinschloßpistole, die in seinem Hosengurt steckte.
„Ziehen Sie bloß nicht die Pistole!“ warnte Slacks.
„Sei vorsichtig, Capitaine!“ brüllte Calderazzo und fuhr mit der Hand unters Hemd. Joslin wußte, daß er dort, in einem kleinen Futteral aus Schweinsleder, das er an einem Schulterriemen trug, das Messer hatte.
„Drohen wollt ihr mir also?“ René Joslin stieß einen wilden Fluch aus und zückte die Pistole. Er spannte den Hahn und richtete die Waffe auf Slacks, den er in diesem Moment für den übleren Kerl von beiden hielt.
Als Slacks sich auf ihn stürzen wollte, riß der Franzose, ohne zu zögern, den Abzug durch.
Er hatte selbst schon mit dem Gedanken gespielt, eine geschützte Bucht anzusteuern. Aber das ließ er sich von seiner Mannschaft nicht vorschreiben. Jetzt, da Slacks und Calderazzo mit der direkten Forderung auf ihn zugetreten waren, schaltete er auf stur.
Und wenn das Ruder und die Masten hundertmal brachen und auch die „Malipur“ samt ihren fünfzehn Männern geradewegs in die Hölle fuhr, Joslin würde sich niemals dem Druck beugen, den die beiden auf ihn auszuüben dachten. Ließ er es zu, daß sie ihm etwas auferlegten, war es mit seiner Autorität als Kapitän für alle Zeiten aus und vorbei.
Lieber starb er, als eine Meuterei auf seinem Schiff ausbrechen zu lassen. Aber dich nehme ich noch mit auf die lange Reise ins Jenseits, du Hund, dachte er, während er den aufschreienden Slacks über den Lauf der Pistole hinweg anstarrte und auf das Krachen des Schusses wartete.
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