Fluchend suchte Calderazzo mit seinen Fingern im Wasser herum.
„Shindaman!“ schrie der Inder. „Besorg mir ein Stück Persenning! Na los, reiß sie einfach von einem Ballen Tuch herunter!“
„Der Alte wird sich freuen!“ meinte der Sizilianer.
„Ist mir egal, was er denkt!“
Ranon glaubte, das Leck in der Bordwand gefunden zu haben. Er drückte mit seinen beiden Händen gegen den Wasserstrom an und konnte sich unter erheblichem Kraftaufwand dagegen behaupten. Schließlich preßte er seine linke Faust in das Loch, so daß das Salzwasser jetzt nur noch in dünnen Spritzern eindrang.
„Schnell!“ brüllte er. „Lange halte ich das nicht durch!“
Shindaman hatte einen der Ballen geöffnet, schnitt die Persenning, die irgendwo festsaß, mit seinem Messer durch und balancierte damit durch den schwankenden Raum zu Ranon hinüber.
„Die Planke!“ schrie Calderazzo in diesem Augenblick. „Ich hab sie gefunden! Wo sind der Hammer und die Nägel?“
„Der Hammer steckt in meinem Gürtel!“ rief der Inder ihm zu. „Die Nägel sind in meiner Hosentasche!“
„Dann los!“
„Shindaman!“ schrie Ranon.
Der Bengale hob das wasserdichte Segeltuch ein Stück höher und legte es um Ranons linke Faust. Ranon nickte dem Kameraden zu, riß die Faust weg, und Shindaman schob die Persenning blitzschnell in das Loch.
Ranon zog den Hammer aus dem Gurt und holte die Nägel aus der Tasche. Calderazzo war mit der Planke zur Hand. Shindaman stopfte die Persenning soweit wie möglich in das Leck, dann zog er seine Hände zurück. Der Sizilianer preßte die Planke gegen die Bordwand – gerade noch rechtzeitig genug, ehe der Wasserdruck ihm den geballten Fetzen Tuch ins Gesicht spie.
Der Bengale und der Sizilianer hielten die Planke fest, und Ranon trieb die Nägel hinein. Calderazzo konnte jetzt loslassen. Er bückte sich und forschte in fieberndem Eifer nach einer weiteren Planke. Er fand eine, hob sie hoch und knallte sie unter die erste, und wieder war Ranon mit Hammer und Nagel zur Stelle.
Wenig später glaubten sie, das Leck gut genug abgedichtet zu haben, aber sie lauschten dem Knacken und Knarren, dem Knirschen und Schaben, das überall in dem großen Frachtraum zu sein schien.
„Das ist alles nur Stückwerk!“ schrie Calderazzo dem Inder ins Ohr. „Sag dem Capitaine Bescheid, daß er runterkommt und sich selbst davon überzeugt!“
„Ja“, sagte der Inder. „Ja, das tue ich jetzt auch.“
So schnell er konnte, kehrte er zu dem Niedergang zurück und kletterte nach oben. Er arbeitete sich durch den Achterdecksgang voran und öffnete die Tür zur Kuhl. Kaum war er draußen angelangt und hatte die Tür wieder zugerammt, toste ein neuer Brecher über das Schiff. Ranon klammerte sich an einem Manntau fest, schluckte Wasser, spie es wieder aus und blickte mit vor Entsetzen geweiteten Augen zum Himmel auf.
Der hatte sich fast schwarz gefärbt, der Tag war zur Nacht geworden. Blitze zuckten auf die See nieder, schwerer Gewitterdonner übertönte die Schreie der Besatzung, die mit schwindender Kraft an den Schoten und Brassen arbeitete, um die Stellung der Segel beizubehalten.
Bedrohlich krängte die „Malipur“ nach Backbord. Ihre Großrahnock schien in die Fluten der kochenden See zu tauchen.
Voll Panik kletterte Ranon auf das Achterdeck und hangelte an den Manntauen auf seinen Kapitän zu.
„Wir haben zuviel Wasser in den Frachträumen!“ schrie er ihm zu. „Mit den Pumpen schaffen wir es nicht! Wenn wir ein Leck abgedichtet haben, bricht das nächste auf! Sehen Sie es sich selbst an, Monsieur!“
René Joslin wandte ihm sein nasses, gehetzt und abgekämpft wirkendes Gesicht zu. Er wirkte um Jahre gealtert. Auch ihm, das begriff Ranon in diesem Moment, war jetzt voll bewußt geworden, in welch mörderische Gefahr sie sich dieses Mal begeben hatten.
Dennoch brüllte Joslin: „Das glaube ich dir auch so! Hol dir Dobro, den Malaien, und noch einen anderen Mann! Nimm sie mit nach unten! Zu fünft müßt ihr mit dem Wasser fertigwerden!“
„Unmöglich, Monsieur!“
„Das ist ein Befehl, Ranon!“ schrie der Franzose, und seine Stimme überschlug sich dabei. „Ich peitsche dich aus, wenn du meinen Befehl nicht befolgst!“
„Wir müssen eine Bucht anlaufen …“
„Nein!“
„… solange wir es noch können!“ rief der Inder verzweifelt.
„Niemals!“ brüllte Joslin ihn an. „Ich bin der Kapitän, ich bestimme, was zu tun ist!“
Aber vielleicht nicht mehr lange, dachte Ranon, dann drehte er sich um und hastete durch Wolken von Gischt zum Niedergang zurück. Diesmal ergeht es uns allen dreckig, sagte er sich, und du säufst mit uns ab, du Narr.
Hasards letzte Worte waren scheinbar ungehört verklungen. In der Sturmbö, die jetzt wild über den Platz zwischen den Hütten und dem Hafen von Airdikit fegte, wandte Don Felix Maria Samaniego den Blick zur Palisadenwand – und plötzlich schien ihm die Erleuchtung zu kommen.
„Das Palisadenlager!“ rief er seinen Soldaten zu. „Die drei Kerle sind in die Umzäunung eingebrochen und versuchen, die Gefangenen herauszuholen! Seht doch, sie haben den Wachtposten niedergestreckt!“
„Warum hat das keiner bemerkt?“ schrie ein Offizier.
„Ich weiß es nicht, Senor“, antwortete ihm einer der jüngeren Unteroffiziere, ein Sargento.
„Egal!“ schrie Don Felix. „Zwanzig Mann sofort zum Tor des Lagers! Das Tor vorsichtig öffnen und ein paar Warnschüsse abgeben! Wenn die Kerle dann noch nicht aufgeben, greife ich hart durch!“
Die Soldaten stürmten unter der Führung des jungen Sargentos los.
Don Felix richtete seine Pistole, die er inzwischen nachgeladen hatte, auf den Seewolf.
„Killigrew“, sagte er. „Sie begleiten mich. Wir treten vor das offene Tor hin, und dann rufen Sie Ihrem Trio von Schwachsinnigen noch einmal zu, was sie zu tun haben. Eins versichere ich Ihnen schon jetzt: Sie sind meine Geisel, und ich werde Sie als solche rücksichtslos benutzen, falls diese Hunde nicht die Waffen strekken.“
„Wollen Sie mich töten?“
„Ich werde Ihnen vielleicht nur ins Bein schießen.“
„Das ist mehr als unfair.“
„Sie sprechen von Fairneß?“ Mit einer heftigen Geste wies der Kommandant auf seine toten Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten. „Das ist doch wohl ein Hohn! Sind dies hier vielleicht die Auswirkungen Ihrer legendären Ritterlichkeit, Corsario?“
„Ich habe versucht, meine Landsleute zu befreien. Sie haben kein Recht, sie hier festzuhalten und zur Zwangsarbeit zu vergewaltigen.“
Samaniego lachte laut auf. „Bestimmen Sie, was Recht und Unrecht ist? Wer sind Sie eigentlich, daß Sie …“
Weiter gelangte er nicht.
Ein Blitz stach vom schwarz und schmutziggelb gefärbten Himmel genau in die Bucht hinunter. Er zerriß die Dunkelheit mit seinem grellen Licht und ließ die Spanier unwillkürlich zusammenzucken. Donner dröhnte in dem Moment auf, in dem er sich ins Wasser entlud, unsichtbare Giganten schienen über die Lichtung zu stürmen und alles niederzureißen.
Die Soldaten, die jetzt das Tor des Palisadenzauns geöffnet hatten, waren für einen Augenblick irritiert. Sie wandten die Köpfe und blickten zu ihrem Kommandanten, weil sie das Krachen des Gewitterdonners mit dem Grollen eines Kanonenschusses verwechselten.
Und da geschah es.
Eine Meute von Männern stürmte aus dem Inneren des Palisadenlagers, allen voran Leusen, der Holländer, der die Führung der befreiten Sträflinge übernommen hatte.
Mit Leusen waren es dreizehn Männer – Holländer, Franzosen, Spanier und Portugiesen –, die ihre Ketten hatten lösen können. Die ganze Gruppe sprang als kompakte Einheit mitten zwischen den Zug Soldaten. Sie hieben mit ihren Fäusten zu und traten mit ihren Füßen aus, entwanden einigen völlig verdatterten Spaniern die Musketen und Tromblons und schossen auf die etwas weiter entfernt stehenden Soldaten, die jetzt ihrerseits mit den Feuerwaffen auf sie anlegten.
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