„Helft auch uns!“
„Laßt uns hier nicht zurück!“
„Habt Erbarmen mit uns!“
Carberry warf ihnen einige seiner Werkzeuge zu, so daß sie sie vom Boden aufnehmen und damit selbst an ihren Ketten arbeiten konnten. Shane und Dan folgten seinem Beispiel.
Jonny verfolgte dies nicht ohne Argwohn. „Es sind einige echte Galgenstrikke und Schlagetots unter diesen Kerlen“, gab er zu bedenken. „Das sind nicht alles Leute, die zu Unrecht hier eingesperrt wurden.“
„Egal“, sagte Shane. „Auch die größten Himmelhunde und Satansbraten sind uns jetzt eine Hilfe.“ Er blickte einen der Männer an, der gerade mit Carberrys Schlegel und Scharfeisen an seinen Handschellen herumwerkte. „He, du! Wißt ihr, wo die Spanier ihre Waffen aufbewahren?“ Er sprach ihn auf spanisch an.
Der Mann schaute kurz zu ihm auf und antwortete in einer Mischung aus Englisch und Holländisch: „Natürlich. In der zweiten Hütte gleich vor dem Tor der Palisaden.“
Shane sah zu Jonny hinüber. „Jonny, kann man sich auf diesen Mann verlassen?“
„Auf den schon“, erwiderte der dickbäuchige, krummbeinige Engländer. „Der ist ein brauchbarer Bursche, abgesehen davon, daß er eine schauderhafte Art zu sprechen am Leibe hat. Er heißt Leusen und stammt aus Holland.“
„Vorwärts“, sagte Carberry. „Ab zum Zaun und her mit dem Tau, das du am Gürtel trägst, Mister O’Flynn!“
Er lief als erster los. Dan folgte ihm und knotete hastig das Tau mit dem kleinen Enterhaken von seinem Gurt los, das er vorsichtshalber mitgenommen hatte, als sie von der „Isabella“ in die Pinasse der Spanier abgeentert waren.
„Leusen“, sagte Big Old Shane noch zu dem Holländer, diesmal auf englisch. „Übernimm du die Führung aller, die sich hier jetzt noch befreien können. Versucht, die Waffenhütte zu erreichen und das Arsenal soweit wie möglich auszuräumen. Dann kämpft ihr euch bis zu den Piers vor, nehmt eins der Boote und ergreift die Flucht.“
„In Ordnung!“ stieß Leusen gepreßt hervor.
Dann drehte auch Big Old Shane sich um und folgte seinen Kameraden.
Der Profos, Dan O’Flynn, Jonny und die acht anderen Männer hatten die Umzäunung derweil erreicht, und Dan schwenkte bereits das Tau und ließ den Enterhaken wirbeln. Der Haken flog an der Palisadenwand hoch und über die oben zugespitzten Pfähle weg. Das Tau straffte sich. Dan zog daran, und der Haken krallte sich hinter den Zaunspitzen fest.
Dan hangelte als erster an dem Tau hoch. Sekundenlang balancierte er auf den spitzen Pfählen, dann verschwand seine Gestalt. Die Palisadenwand war nicht höher als zehn Fuß, daher konnte man den Sprung hinunter riskieren, ohne dabei Gefahr zu laufen, sich die Knochen zu brechen.
Carberry kletterte als nächster an der hölzernen Wand hinauf und sprang Dan nach, dann folgten Shane, Jonny und die vier ehemaligen Decksleute der „Balcutha“ und schließlich die vier Männer, die zu Jonnys neuer Crew zählten. Drei von ihnen waren Eingeborene, einer ein Weißer.
Einer nach dem anderen landete sicher auf dem weichen, morastigen Boden jenseits der Palisadenwand. Dan, der Profos und Big Old Shane sicherten jetzt mit ihren Waffen nach allen Seiten, aber vorläufig tauchte keiner der Gegner auf.
Die Nordseite der Palisadenwand war vom Lagerplatz aus nicht zu überblicken. Die Spanier mußten erst ganz um das Lager herumlaufen, um sehen zu können, was sich an dieser Stelle abspielte, aber im Moment schien sich alles auf die Vorgänge bei den Hütten zu konzentrieren. Deshalb blieb der zwölfköpfige Trupp unbehelligt.
„Wir können uns ins Dickicht schlagen und ein Stück durch den Busch bis zu der Anhöhe laufen, auf der das Kastell steht“, schlug Jonny vor. „Ich kenne den Weg und weiß auch, wie wir am günstigsten in den Bau geraten, um ihn zu vereinnahmen.“
„Dann übernimm du jetzt die Führung“, zischte der Profos ihm zu. „Los, Mann, jeder Augenblick ist kostbar.“
Sie verschwanden in dem dichten, verfilzt und undurchdringlich wirkenden Gesträuch, das Feuchtigkeit und Hitze ausatmete.
Dichter ballten sich jetzt die Gewitterwolken über Airdikit zusammen, und es wurde immer dunkler, obwohl es auf die Mittagsstunde zuging. Die Schwüle war unerträglich und ließ jede Bewegung zur Last werden. Auch der Wind brachte keine Abkühlung. Nahe der Küste zuckte ein weit verästelter Blitz auf die See nieder, kurz darauf war ein drohendes Grollen zu vernehmen, das wie Kanonendonner heranrollte und verkündete, daß das schwere Wetter im Begriff war, sich direkt über Airdikit auszutoben.
Der Sturmwind blies aus Richtung Südsüdwest gegen die Südküste von Sumatra und peitschte die Wasser der gesamten Mentawaistraße auf. In ihrem nördlichen Bereich, unweit der Insel Nias und keine fünfzig Seemeilen mehr vom Äquator entfernt, segelte zu dieser Stunde ein dreimastiges Schiff, nach dem die urwüchsigen Kräfte der Natur jetzt wie mit Teufelsklauen zu greifen schienen.
Das Schiff trug den Namen „Malipur“, aber der Schriftzug war weder an den beiden Seiten des Bugs noch am Heck klar zu erkennen. Längst hatten ihn die Fluten der See so weit verwaschen, daß die Galeone jedem fremden Beobachter gegenüber namenlos war.
Die Schäden an Rumpf, Schanzkleid und Aufbauten, die das Schiff bei früheren Überfahrten davongetragen hatte, waren nur flüchtig und unzureichend ausgebessert worden. Kaum besser war es um die Segel bestellt, die an vielen Stellen mit groben Flicken versehen waren. Hier und da hätte es einiger größerer Stücke Segeltuch bedurft, um die Löcher zu verdecken, die im Groß-, Großmars- und Vormarssegel, in der Fock, in der Blinde und im Besan klafften, aber der Kapitän unterließ dies absichtlich, weil er jetzt alle Decksleute brauchte, um die Galeone am Wind zu halten.
Die „Malipur“ war völlig unterbemannt.
Sie hatte nur eine vierzehnköpfige Besatzung, hätte aber mindestens die doppelte Zahl an Seeleuten gebraucht, zumal es bei der heillosen Unordnung, die im laufenden und stehenden Gut herrschte, vieler Hände und einer Menge guten Willens bedurft hätte, um alles wieder einigermaßen aufzuklaren.
Nun wäre es allerdings keine Schwierigkeit gewesen, in der Gegend, aus der die „Malipur“ gerade kam, noch mehr Männer für den harten Decksdienst anzuheuern. Der Grund, warum es der Galeone an Besatzung mangelte, lag woanders. Wer immer auch mit dem Anliegen an Kapitän René Joslin herangetreten wäre, die Mannschaft zu vergrößern, der wäre auf energischen Widerstand gestoßen.
Mit Händen und Füßen sträubte sich Joslin dagegen, mehr für dieses Schiff und seine Besatzung auszugeben, als eben notwendig war. Mehr Leute, das hätte selbstverständlich mehr Kosten bedeutet. Joslin war ein hartnäckiger, engstirniger Pfennigfuchser, der auch die kleinste Kupfer- oder Messingmünze noch zweimal umdrehte, bevor er sie ausgab.
Ihm war nur eins wichtig: die Ladung sicher und pünktlich im Bestimmungshafen abzuliefern.
Die Ladung bestand aus Seide und anderem Tuchwerk, aus kunstvoll genähten und bestickten Gewändern und einigen Gewürzsorten, wie es sie nur in der Region des unteren Ganges und seiner weitverzweigten Mündung zu kaufen gab. Lange hatte Joslin mit den indischen Händlern in den Dörfern am Golf von Bengalen herumgefeilscht, ehe er seine Fracht zusammengestellt hatte. Er hatte die Preise soweit wie möglich heruntergedrückt. In dieser besonderen Kunst verstand er, der geborene Franzose, sich als ausgesprochener Meister. Er war mindestens genauso redegewandt und wußte so gut zu gestikulieren und zu klagen wie die Eingeborenen selbst.
In Manila, der Hauptstadt der Philippinen, würde er alle diese Ware mit erheblichem Gewinn an den Mann bringen, das wußte er. Aber er durfte für die Reise nicht mehr Zeit als einen Monat verwenden. Zwar hatte er sämtliche Waren mit Persenning wasserdicht verpackt – und in diesem Punkt hatte er nicht mit Material gespart –, aber ihm war von Beginn an klar, daß das mörderisch feuchte Tropenklima Tücher, Kleider und Gewürze innerhalb einer Zeitspanne, die über dreißig Tage hinausging, erbarmungslos zersetzen würde. Die alles andere als erstklassigen Stoffe würden schimmlig werden und ihre Farbe verlieren, die Gewürze würden ungenießbar und zur Brutstätte winzigen Getiers, wenn er nicht aufpaßte.
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