»Hast du denn für den Holographen kein terrestrisches Kartenmaterial von Tiberia mitgenommen?«
»Leider nicht, und wie hätte ich das auch fertigbringen sollen? Es war schon schwierig genug, trotz Ardens Starrsinn an das Gerät zu kommen«, erwiderte Solaras kurz angebunden. Er wollte nur noch drei Dinge – endlich landen, den Gleiter tarnen und sich ausruhen. Um Kalmes zu schonen, war er die meiste Zeit über am Steuer gesessen. Das rächte sich nun. Er wähnte sich am Ende seiner Kräfte.
Das kleine, linsenförmige Raumfahrzeug näherte sich mit aktivierten Tarnschilden dem Boden. Solaras steuerte eine freie Fläche an, die neben einer Siedlung lag. Die Gegend war relativ flach, doch dann entdeckte er eine Bodenmulde, die von den landestypischen Steppenpflanzen bewachsen war.
»Das ist ideal! Wenn wir das Tarnnetz überziehen, die Ränder mit ein bisschen Erdreich ausgleichen und ein paar Pflanzen oben drauf setzen, sollte unser Vehikel vor neugierigen Blicken verborgen sein. Es sieht nicht aus, als ob dieser Bereich des Landstrichs landwirtschaftlich genutzt wird. Ich hoffe nur, dass wir auf der richtigen Seite des riesigen Grenzzauns aufsetzen. Da sieh mal – keine Ahnung, wer oder was dort eingesperrt ist!«
»Ein Grenzzaun? Hier scheint sich aber einiges verändert zu haben. Nun gut, wir waren zuletzt vor zweitausend Jahren hier. Ich habe ein wenig Angst, Solaras. Freilich, wir haben von Tiberia aus die Entwicklungen auf Terra zumindest im Groben mitbekommen, aber leider nicht, wie sich die Gesellschaft an sich verändert hat.
Ich bin nicht einmal sicher, in welchem Jahr wir gelandet sind. Befinden wir uns im zweiundzwanzigsten Jahrhundert oder schreibt man hier doch noch das einundzwanzigste wie auf dem Mars? Keine Ahnung, welche Auswirkungen der Zeittunnel auf diese Ecke des Sonnensystems zeitigt.
Wie auch immer, das heutige Terra wird uns fremd sein. Hat sich die Sprache gewandelt, wie sind die Sitten und Gebräuche und so weiter … wir können uns da kaum Fehler erlauben, müssen uns von Anfang an integrieren. Sonst fallen wir als Fremdkörper auf«, sinnierte Kalmes bedrückt.
Der Gleiter setzte sanft auf. »Ein Schritt nach dem anderen. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um die Tarnung, dann ruhen wir uns aus. Im Morgengrauen kleiden wir uns in die gute alte terrestrische Tracht und wandern zu der Siedlung hinüber, die wir von oben gesehen haben. Dann entscheiden wir das Weitere«, gähnte Solaras.
Gegen 1.30 Uhr morgens fielen die beiden Tiberianer nach getaner Arbeit in einen tiefen Schlaf, zum letzten Mal in den engen Kojen des Raumgleiters. Eine Riesenportion Glück hatte sie davon abgehalten, weiter südlich zu landen.
*
m Morgengrauen machten sich Kalmes und Solaras auf den staubigen, steinigen Weg zu der Ansammlung von kleinen Häusern, die sie am Vorabend aus der Luft entdeckt hatten.
»Schau mal, die toll gepflegten Plantagen. Und außerhalb des eigentlichen Dorfes befindet sich eine Art Lager, wo sich jede Menge Leute tummeln. Ob das fliegende Händler sind?«, dachte Kalmes laut nach.
»Wir fragen einfach. Geld besitzen wir sowieso noch keines, einen implantierten Chip ebenfalls nicht, wie sie hier im zweiundzwanzigsten Jahrhundert jeder Einwohner besitzt – oder besitzen wird. Wir werden unsere Dienste anbieten müssen, um einen Schlafplatz zu erhalten. Hoffentlich funktioniert das noch auf dieselbe Weise wie früher. Ich denke, wir sollten für ein paar Tage hier bleiben, um uns grob zu orientieren. Danach können wir in nördlicher Richtung weiterziehen.«
Zehn Minuten später erreichten sie das mutmaßliche Lager. Einige Erwachsene kamen auf das altersmäßig ungleiche Paar zu gelaufen. Einer schälte sich aus der Gruppe.
»Schalom, ihr Wanderer. David ist mein Name. Ich nehme an, ihr sucht eine Auszeit aus dem Alltag im Büro, so wie die meisten anderen hier? Super, ihr habt euch ja bereits in einfache Gewänder gehüllt. Ein bisschen Verkleidung gehört eben auch zum totalen Aussteigen, nicht wahr?«
Der schwarzhaarige Hüne mit der tiefen Stimme grinste, klopfte Solaras auf eine Schulter. Dann führte er ihn und seine ältere Begleiterin ins Dorf. Er hielt die beiden für Arbeitskollegen. Es kam häufiger vor, dass ganze Gruppen hier auftauchten, die die Nase voll von miefigen Stadtbüros hatten und vorübergehend am Puls von Mutter Natur leben wollten.
»Wir müssen euch zuerst registrieren, damit ihr hinterher auch euer Taschengeld bekommt. Es ist nicht viel, aber darum geht es bei uns schließlich keinem. Wir leben, essen und arbeiten hier in Jad Mordechai zusammen. Apropos – habt ihr euch denn gar kein Zelt mitgebracht? Die Wohnhäuser dort drüben sind nämlich nur für die fest ansässigen Familien gedacht.«
Solaras war etwas verunsichert, verneinte. Immerhin, der Fremde hatte von Geld gesprochen, und das konnten sie wahrlich gut gebrauchen. Und es legte den Schluss nahe, dass man hier auf Terra doch das einundzwanzigste Jahrhundert schrieb. Diese Erkenntnis würde einiges vereinfachen. Keine Identifikationsund Bezahlchips unter der Haut, noch keine Totalüberwachung der Bevölkerung … das ließ hoffen.
»Wenn ihr wollt, könnten wir euch ein einfaches Zweimannzelt ausleihen. Unsere erwachsene Tochter hat es mittlerweile vorgezogen, mit ihrem neuen Freund in dessen Behausung zu nächtigen. Wie lange wollt ihr bleiben?«
»Ein paar Tage, mehr nicht«, antwortete Kalmes. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie das Treiben im Dorf. Jeder Einwohner schien irgendeiner Arbeit nachzugehen, man scherzte und half sich gegenseitig. Manche winkten den seltsam gekleideten Neuankömmlingen freundlich zu.
»Der Kibbuz hier wird gemeinsam bewirtschaftet. Er trägt sich ausschließlich aus seinen landwirtschaftlichen Gewinnen. Wir bauen vor allem Orangen, Avocados und Grapefruits an, betreiben außerdem Austausch mit einer weiteren landwirtschaftlichen Genossenschaft, die andere Früchte kultiviert. Die Erwachsenen der festen Einwohner leben in kleinen Häusern wie diesem da.« Er deutete auf ein winziges, einfach gehaltenes Gebäude.
»Und die Kinder?«
»Die sind Tag und Nacht im separaten Kinderhaus untergebracht. Sie leben dort und werden unterrichtet. Sofern sie nicht bei der Ernte helfen oder zum Spielen draußen sind, heißt das. Ihre Eltern sehen sie nur stundenweise, oder zumindest beim Essen im Speisesaal.«
»Eine sinnvolle Einteilung«, lobte Kalmes und warf Solaras vielsagende Blicke zu. Sie hatte längst erkannt, dass hier gewisse Parallelen zum tiberianischen System erkennbar waren, insbesondere zur Sektion Landwirtschaft und Versorgung . Vielleicht war Terras Bevölkerung ja mittlerweile doch zur Vernunft gekommen. Sie fragte sich allerdings, wozu in diesem Fall das sogenannte Taschengeld dienen sollte.
»Habt ihr Pässe dabei?«, fragte der hünenhafte Bär, als sie die Registrierstelle erreicht hatten.
Kalmes erschrak. »Äh … nein, leider … die müssen wir vergessen haben.«
David schien für einen Augenblick zu stutzen. Dann hellte sich seine Miene wieder auf, und er lachte: »Ah, ihr nehmt es mit dem Aussteigen aber ziemlich ernst, hä? Nun gut … dann muss es eben ausnahmsweise ohne Papiere gehen.«
Eine junge Frau fragte sie nach ihren Namen und wunderte sich, dass die Neuen offenbar nur die Vornamen nennen wollten. Und die waren reichlich merkwürdig, auch wenn die Tiberianer vorsichtshalber die Ortsund Zeitkennung ihrer Geburt wegließen. Es verbot sich natürlich, die alte terrestrische Identität zu verwenden. Beide ahnten, dass es eine Reihe von Fragen aufwerfen würde, falls man sich als Jesus von Nazareth und Maria Magdalena ausgäbe.
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