Ihr Begleiter nickte nur und stieg ins Cockpit des Raumgleiters, der der geöffneten Luke am nächsten stand. Ein Pfeifton, der immer höher wurde, signalisierte, dass er die Impulstrieb werke gestartet hatte. Kalmes raffte im Uniblock schnell ihre wenigen Besitztümer zusammen, dann stieg auch sie behände in den Gleiter. Ein Knopfdruck auf dem Panel zwischen den Sitzen, und ihr Körper wurde in den ergonomischen Schalensitz gesaugt, der sich augenblicklich ihren Konturen anpasste.
Langsam schwebte das silberglänzende Gefährt durch die Schleuse. Die Sinne der beiden Insassen waren zum Bersten angespannt. Gleich wären sie im Freien … Kalmes‘ rot geränderte Augen tasteten die Umgebung ab. Sie hätte beim besten Willen nicht sagen können, ob sich Hindernisse in der Nähe befanden. Vor der rundum laufenden Scheibe erkannte man nichts anderes als rotierende Staubschlieren, die stetig die Richtung änderten.
Gleich nach dem Verlassen der Schleuse erfasste eine Windbö das kleine Raumfahrzeug, schleuderte es scheppernd gegen die Außenwand des Frachters. Unwillkürlich schrie Kalmes auf. Solaras versuchte verzweifelt, die Steuerkontrolle zu bekommen. Vergeblich. Der Gleiter schlingerte wild hin und her, auf und ab, als besäße er gar keinen Antrieb. Es war vollkommen unmöglich, auszusteigen und die Luke des Frachters von außen wieder zu verriegeln. Sie mussten steil senkrecht aufsteigen, und das zügig.
Es war lediglich einem gnädigen Zufall zu verdanken, dass in diesem Augenblick der Wind zwar stark, aber für einige Minuten nur noch aus einer Richtung wehte. So konnte Solaras den Gleiter mit voller Kraft gegen den starken Windstrom drücken und halbwegs kontrolliert neben einer Windsäule nach oben gleiten. Dennoch wurden sie ordentlich durchgeschüttelt. Oft drehte sich das scheibenförmige Vehikel um die eigene Achse und erschwerte dem Navigator so die Orientierung.
Als sie die dünne Marsatmosphäre erreichten und das Tosen verschwunden war, atmeten beide auf. Solaras‘ Hände zitterten stark, er war einem Nervenzusammenbruch nahe. Seine CoPilotin überprüfte rasch die Bordinstrumente und stellte beruhigt fest, dass ihnen niemand zu folgen schien. Endlich konnten sie es wagen, die Innenbeleuchtung des Cockpits anzustellen.
»Ich gäbe etwas drum, jetzt eine Pause einlegen zu können«, keuchte Solaras erschöpft. »Aber es hilft alles nichts – also auf nach Terra, in unser neues Leben.«
»Tja, was soll ich dazu sagen? Ich habe ein paar TUNs mehr auf dem Buckel. Frage daher besser nicht, wie es mir gerade geht. Halte noch ein wenig durch, dann übernehme ich und du kannst dich ausruhen. Du musst mir vorher nur noch erklären, wie dieses Ding genau funktioniert. Du weißt ja, meine Sektion befasst sich normalerweise nicht mit dem Steuern von Raumgleitern«, grinste Kalmes.
Zweieinhalb KIN später kam eine mit zahllosen Lichtpunkten übersäte Kugel in Sicht. Solaras aktivierte sofort die Tarnschilde. Auch wenn sie sich Terra von der Nachtseite her näherten, war es besser, nicht leichtsinnig auf sich aufmerksam zu machen. Fluchend steuerte er den Raumgleiter zwischen ein paar scharfkantigen Stücken Weltraumschrott und Fernsehsatelliten hindurch, dann überflogen sie den Nahen Osten.
»Am besten landen wir in der altbewährten Gegend«, schlug Solaras aufgeregt vor. »Dort ist die Besiedelung nicht so dicht, und wir kennen uns fürs Erste aus.«
Er ahnte noch nicht, wie sehr er sich mit dieser Annahme irren sollte.
Terra, 31. Juli 2023 nach Christus, Montag
Mit rasenden Kopfschmerzen erwachte Thomas Maier aus einem kurzen, unruhigen Halbschlaf. Ungefähr zweieinhalb Stunden hatte es gedauert, bis Pierre LaSalle seine Ausrüstungsgegenstände wieder verstaut hatte, in den Rover gestiegen und gemeinsam mit seinem Missionskollegen Javier Molina Hernández zum Metallportal unterhalb des Olympus Mons gefahren war.
Die restlichen Astronauten hatten zuerst auslosen müssen, wer von ihnen LaSalle begleiten durfte; die damit für Leib und Leben verbundene Gefahr spielte bei zukunftsweisenden Einsätzen wie diesem natürlich kaum eine Rolle. Jeder wollte dabei sein, wenn Geschichte geschrieben wurde.
»Pierre, kannst du mich hören? Javier soll den Rover ungefähr zweihundert Meter entfernt parken und dort auf dich warten. Du forderst ihn bitte nur an, wenn du alleine nicht zurechtkommen solltest. Marscontrol Ende «, kommandierte Maier auf Englisch.
Der Astronaut signalisierte nach dem üblichen Zeitversatz, dass er verstanden habe und mühte sich ungelenk aus dem Marsrover. In einer Hand hielt er einen kleinen Werkzeugkoffer, in der anderen den mit Kevlar beschichteten Container mit der Fotoausrüstung. Die sieben Zeichenfolgen des mutmaßlichen Öffnungscodes hatte er in der Isozone sorgfältig von der Folie abgezeichnet, um das Original nicht zu beschädigen.
Es sieht gemeinhin ziemlich urig aus, wenn Astronauten trotz der schweren Raumanzüge und mitgeführter Lasten leichtfüßig über ferne Himmelskörper zu hopsen scheinen, obwohl sie sich um einen normalen Gang bemühen. In diesem Fall aber lagen die Dinge anders.
Die Schwerkraft auf dem Mars glich mittlerweile schon fast derjenigen der Erde. Etwa im Jahr 2018 hatte ein unerklärliches Phänomen seinen Anfang genommen. Der Eisenkern des Planeten rotierte offenbar, Konvektionsströmungen schienen wieder in Bewegung geraten zu sein. Ein respektables, schützendes Magnetfeld war so entstanden, was das Risiko einer Verstrahlung für die Crew der Aurora minimierte.
Sogar die Achse des Roten Planeten verhielt sich stabil, weil anstelle der plötzlich verschwundenen Gesteinsbrocken Phobos und Deimos quasi über Nacht ein kleiner Planet in Marsnähe aufgetaucht war, der seitdem als neuer Mond fungierte.
Zum weltweiten Erstaunen handelte es sich hierbei um den Zwergplaneten Ceres . Nur, wie war dieser Himmelskörper, der zuvor im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter seine Bahnen gezogen hatte, dorthin gelangt? Und auf welche Weise konnte sich überhaupt das Magnetfeld eines Gesteinsplaneten von selbst wieder aufbauen? Zudem verdichtete sich die Atmosphäre zusehends, der Sauerstoffanteil stieg stetig an. In einigen Jahrzehnten würde man sich auf dem Mars vielleicht sogar ohne Raumanzug ganz normal bewegen können.
Die Wissenschaftler der Erde standen vor mehreren Rätseln. Fast schien es, als würde jemand Marsforming betreiben.
Pierre LaSalle bekam die Auswirkungen dieser faszinierenden Veränderungen unmittelbar vor Ort zu spüren. Er schleppte schwer an seiner sperrigen Ausrüstung, umging keuchend ein paar dunkle Felsbrocken, die wahrscheinlich beim letzten Vulkanausbruch als glühende Lavabomben niedergegangen waren, und kam schließlich erschöpft an seinem Ziel an.
Thomas Maier bemerkte, wie sich sein Tinnitus verstärkte, der ihn seit einiger Zeit fast um den Verstand brachte. Während sein Kollege auf dem Mars jenen Alkoven näher untersuchte, in welchem er vor einigen Tagen die Zeitkapsel gefunden hatte, rieb er sich die pochenden Schläfen und bat Sheila, ihm eine starke Kopfschmerztablette zu besorgen. Dazu orderte einen großen Pott Kaffee zum Hinunterspülen.
Nirgends existierte ein Eingabefeld, auf dem man die kleinen Rechtecke in der aufgezeichneten Anordnung hätte antippen können … aber wer wusste schon, wie so ein Öffnungsmechanismus bei Aliens funktioniert haben mochte? Vielleicht musste man nach etwas vollkommen anderem suchen. Mehrmals zuckte LaSalle zum Entsetzen seiner irdischen Beobachter ratlos mit den Schultern.
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