Süleyman Ayasli empfand keine Kälte mehr.
Das Wasser war zu seinem Element geworden, in dem er sich wohl fühlte. Denn es war das Element, das ihm den Sieg bringen sollte. Den Sieg zu guter Letzt. Die überragende Macht. Die Gewißheit, allen anderen überlegen zu sein.
Nur noch fünfzig Yards war er von der Dubas entfernt. Die Gestalten an Deck zeichneten sich deutlich vor dem Flammenschein am Nachthimmel ab. Vielleicht war der Olivenhain in Brand geraten. Die knorrigen alten Bäume boten den Flammen gute Nahrung.
Nun, wenigstens hatten die Neugierigen dann mit dem Löschen zu tun, statt herumzustehen und zu gaffen, wie sie es auf den Schiffen im Hafen taten.
Wohin Ayasli auch blickte, es war überall das gleiche. Die Deckswachen stierten sich mit nicht nachlassender Neugier die Augen aus dem Kopf. Dabei hatten sie nicht die geringste Chance, durch Blicke herauszufinden, was sich abspielte. Das Geschehen war viel zu weit entfernt.
Wahrscheinlich, so dachte er grinsend, würden die meisten in dieser Nacht kein Auge mehr zukriegen, ehe sie nicht wußten, was die Explosion zu bedeuten hatte.
Auf geradem Kurs schob er das kleine Floß vor sich her. Die Schwimmbewegungen liefen wie von selbst ab. Er wußte nun, daß er genügend Ausdauer hatte, auch den Rückweg ohne Mühe zu bewältigen.
Zwei der Christenbastarde auf der Dubas palaverten. Ayasli konnte nur Wortfetzen verstehen. Weitere Gestalten sah er auf dem Achterdeck. Die beiden, die sich auf der Kuhl befanden, marschierten auf und ab. Die eigentlichen Wachen?
Ayasli entschied, sich dem Bug des Zweimasters zu nähern. Er begann, einen weiten Bogen nach rechts zu schwimmen, um der Dubas dann schräg von vorn entgegenzustreben. Die beiden Redseligen auf dem Vordeck konnten ihn unmöglich entdecken, denn der Bug ragte hoch genug auf. Auch auf den übrigen Schiffen an der Pier galt alle Aufmerksamkeit dem fernen Flammenschein.
Der Höllenfürst frohlockte, als er den Bogen fast vollendet hatte. Hoch und düster sah er den Bug des Zweimasters nun zum Greifen nahe vor sich. Die Stimmen waren klarer zu vernehmen, türkische Stimmen von den kleineren Seglern, englisch von Bord der Dubas, irgendein wirres Zeug über das Verhalten von Hunden.
Ayasli hielt das Floß fest, damit es nicht mit Schwung gegen die Außenbeplankung prallte.
Plötzlich hörte er ein heiseres Grollen, das aus keiner menschlichen Kehle ertönte.
Das Gespräch an Bord brach ab.
Dem Grollen folgte Gebell, furchterregend wildes Gebell. Das war kein Straßenköter, der da kläffte. Nein, die Stimme dieses Hundes klang machtvoll und gefährlich.
Ayasli wollte sich herumwerfen, er fror auf einmal. Und erschrak über sich selbst, als ihm klar wurde, daß er drauf und dran war, seine Unterwasserbombe einfach zu vergessen.
Plymmie hatte sich losgerissen.
Mit schleifender Leine und zornig bellend jagte die Wolfshündin über die Kuhl nach vorn, vorbei an Old Donegal und dem Kutscher. Die Zwillinge rannten hinterher. Hasard junior stieß einen Fluch aus, den er in Gegenwart seines Vaters niemals riskiert hätte. Smoky und Matt Davies waren ebenfalls auf dem Weg zum Bug.
Plymmie verharrte bei der Bugverschanzung, vorgeneigt, die muskulösen Läufe gegen die Planken gestemmt. Nur noch ein tiefes, heiseres Grollen drang jetzt aus ihrer Kehle.
Hasard junior war als erster zur Stelle, und er packte ihre Leine. Was sich auch abspielen mochte: wenn die Hündin über Bord sprang, geriet sie ins Hintertreffen. Verglichen mit einem Menschen, war sie im Wasser unbeholfen und konnte sich nicht so geschickt bewegen.
Philip erreichte die Bugverschanzung und spähte auf die Wasseroberfläche.
„Ein Kerl mit einem Floß!“ rief er, und bevor einer der anderen auch nur eine Silbe von sich geben konnte, schwang er sich nach außenbords.
Ein heiserer Wutschrei empfing ihn.
Mit senkrecht gestreckten Beinen tauchte Philip unter. Da waren Hände, die nach ihm greifen wollten. Doch er war schneller unter Wasser, als der Kerl vermutlich erwartet hatte. Wie ein Stein ließ er sich sacken, und dann strebte er mit drei, vier kraftvollen Zügen zur Mitte des Bugs hin, wo er das Floß gesehen hatte.
Jemand sprang. Philip hörte den klatschenden Aufschlag auf die Wasseroberfläche mit vervielfachter Lautstärke. Es war nicht Plymmie, das hörte er an den Bewegungen. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß es nicht sein Bruder war. Denn der mußte ja die Hündin zurückhalten. Wenn es ihm nicht gelang, war die Wolfshündin verloren. Denn der Kerl im Wasser hatte garantiert ein Messer.
Philip tauchte auf.
Nur um Handbreite vor seinem Gesicht war das Floß.
Es war Smoky, der gesprungen war. Deutlich erkannte Philip die Riesenfäuste des Decksältesten, wie dieser auf den Schwimmenden eindrang. Der Kerl stieß heiseres Wutgeschrei aus und versuchte immer wieder, die Hiebe des muskulösen Mannes an Bord der Dubas abzuwehren. Es gelang ihm nur unvollkommen. Mehrmals wurde er getroffen, versank, schluckte Wasser, stieg wieder hoch und versuchte, die Flucht zu ergreifen.
Aber Smoky holte ihn jedesmal mit schnellen Schwimmzügen wieder ein. Und der Kampf begann von neuem. Wasser spritzte hoch, wenn der Fremde ins Leere hieb.
Philip hatte Zeit, sich mit dem Floß zu befassen.
Er betastete es, und als erstes fiel ihm das lange dünne Rohr und die herausragenden Eisendorne auf.
Über der Bugverschanzung erschien die Silhouette von Matt Davies.
„Laß die Finger davon!“ rief der Mann mit der Hakenprothese warnend. „Komm an Bord, wir kümmern uns darum.“
„Vielleicht ist es dann zu spät“, entgegnete Philip, den bereits eine deutlich umrissene Ahnung beschlich.
Matt Davies schleuderte ein Tau in die Richtung, in der Smoky mehr und mehr die Oberhand über den Mann gewann, der nur der Höllenfürst sein konnte.
Philip schob sich mit den Unterarmen auf das Floß, so daß er sich die Schwimmbewegungen ersparen konnte. Er hielt ein Ohr an die Kisten.
Und erschrak.
Etwas zischte.
Auf einmal wurde ihm die Bedeutung des langen Rohrs klar. Ohne zu zögern, riß er es heraus. Nach kurzem Tasten fand er den Deckel des Behälters zwischen den beiden großen Kisten. Er fetzte das Ölpapier weg. Seine Fingerkuppen stießen in Fett, aber darunter fühlte er den Deckelrand. Er klappte ihn auf.
In dem Behälter zischte es, und die Glut war weißlich.
„Philip, verdammt noch mal!“ brüllte Matt Davies.
Und dann verstummte er, denn der Sohn des Seewolfs tat, was einzig getan werden konnte.
Mit der freien Hand schöpfte er Wasser in den Behälter.
Die Lunte zischte heftiger, weißer Qualm stieg auf. Philip packte zu, riß die helle Schnur heraus und tauchte sie unter Wasser. Minutenlang.
Kein weiteres Zischen war zu hören.
An Bord der Dubas holten Matt Davies und die anderen das Tau ein, an dessen Ende Smoky den mittlerweile bewußtlosen Höllenfürsten „belegt“ hatte.
Philip ließ die Lunte los. Sie hatte sich mit Wasser vollgesogen und versank. Es schien keine Gefahr mehr zu drohen. Trotzdem wollte er ganz sicher sein. Gründlichkeit war das oberste Gebot – in diesem wie in vielen anderen Fällen.
Er zog sein Entermesser und hebelte die Kistendeckel auf, die ebenfalls wasserdicht verschlossen waren. Kurz nacheinander fielen beide Deckel weg. Philip schob sich ein Stück höher und linste in die Kisten.
Pulversäcke. Sorgfältig geschichtet.
Es gab nur noch das eine.
Philip packte die Kistenränder, ließ sich fallen und brachte das Floß zum Kentern. Mit einem Schwall strömte das Wasser in die Kisten und durchtränkte die Pulversäcke.
Wasser – das einzige Mittel, um Schwarzpulver so wirkungslos werden zu lassen wie Mehl.
Die Männer hievten erst den Höllenfürsten an Bord. Danach, nachdem Philip den Tampen um das Floß geschlungen hatte, beförderten sie auch die Unterwasserbombe des Höllenfürsten an Deck. Philip folgte ohne Hilfe. Mit katzenhafter Gewandtheit enterte er an Steuerbord auf.
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