Hasard und seine Gefährten brachen auf. Es gab keine Zeit zu verlieren. Kemal Yildiz’ Tod mußte vollends gesühnt werden. Gleichzeitig wurde Istanbul von einem Alptraum befreit.
Münnever Yildiz sollte wieder in der Lage sein, ihr wohltätiges Werk für die Armen dieser Stadt fortzusetzen.
Süleyman Ayasli verharrte regungslos. Im nächsten Moment setzte er sich wieder in Bewegung und schob seinen kleinen Handkarren in einen Torweg. Die Häuser ringsum lagen in völliger Dunkelheit. Nirgendwo deutete etwas darauf hin, daß es auch nur eine Menschenseele gab, die ihn beobachtete.
Aber jetzt hörte er deutlich die Schritte. Sie näherten sich und mußten jeden Moment die Gasse erreichen, in der er sich befand.
Er bewegte sich nicht und wirkte wie ein Baumstamm in der Finsternis.
Die Schritte gewannen einen hohlen Nachhall. Also hatten sie die Gasse erreicht. Der Höllenfürst hielt den Atem an. Wer war so spät noch unterwegs? Ein Trupp der Stadtwache? Er hoffte, daß sie nicht Hauseingänge und Torwege kontrollierten. Er fühlte sich außerhalb seiner Werkstatt verwundbar. Öbül war nicht pünktlich zurückgekehrt, und er war nun vollends auf sich allein gestellt.
Die entscheidende Aufgabe mußte er allein bewältigen.
Er war entschlossen, es zu schaffen.
Seine Konstruktion, die er auf dem Handkarren transportierte, war ein Meisterwerk. Die Welt würde staunen, wenn sie davon hörte.
Schwankender Lichtschein fiel auf die Pflastersteine vor dem Torweg. Die Schritte dröhnten jetzt. Gedämpftes Murmeln war zu vernehmen.
Der Mann, der an der Spitze ging, trug eine Schiffslaterne. Ihm folgte der hochgewachsene Engländer, der Philip Hasard Killigrew sein mußte. Ayasli hatte sich die Beschreibung, die Öbül ihm gegeben hatte, genau eingeprägt.
Der Höllenfürst erschrak.
Fast die gesamte Mannschaft war da unterwegs, und sie drangen in die Richtung vor, aus der er gekommen war. Ihre Schritte waren voller Entschlossenheit, und sie hatten sich mit Säbeln und Pistolen bewaffnet.
Schlagartig wußte Ayasli, was sie vorhatten. Bei dem Gedanken traf ihn neuer Schreck wie ein Hieb.
Öbül hatte versagt. Eine andere Erklärung gab es nicht. Sie mußten ihn gefangengenommen haben. Nur deshalb war er nicht zurückgekehrt. Öbül war sonst noch nie unpünktlich gewesen. Immer war er vor der vereinbarten Zeit eingetroffen.
Sie mußten ihn gefoltert haben, die verfluchten Bastarde.
Unter Zwang hatte er verraten, wo sich die Werkstatt befand.
Für einen Moment spielte Süleyman Ayasli mit dem Gedanken, auf einer Abkürzung zu seinem Haus zurückzukehren, um es zu verteidigen.
Verteidigen? höhnte eine innere Stimme. Was könntest du schon ausrichten!
Nein, es gab nur den anderen Weg. Jetzt mußte er seinen Plan erst recht in die Tat umsetzen. Wenn es denn sein sollte, lief es eben auf gegenseitige Vernichtung hinaus.
Sie würden sein Lebenswerk zerstören, seine Werkstatt, sein Handwerkszeug, seine Vorräte.
Und er würde ihnen alles nehmen, was sie hatten – ihr Schiff mitsamt der Ausrüstung und den paar Mann, die wahrscheinlich als Wachen zurückgeblieben waren.
Vorsichtig näherte er sich der Gasse und spähte nach links.
Der Lichtschein war nicht mehr zu sehen. Sie waren also bereits abgebogen und in einer Abzweigung verschwunden. Aber der leise, dumpfe Hall ihrer Schritte war noch zu vernehmen.
Ayasli verharrte weitere fünf Minuten in dem Torweg, ehe er den Handkarren nahm und seinen Weg fortsetzte. Von den Rädern hatte er die Eisenreifen entfernt, so daß die Rollgeräusche kaum zu vernehmen waren. Überdies bewegte er den Karren vorsichtig genug, um nicht gegen unerwartete Hindernisse zu stoßen.
Er hatte sich Öbüls Wegbeschreibung genau eingeprägt. So umrundete er jenen Teil des Hafens, in dem das Schiff der Engländer lag, und drang auf ein jenseitiges Werftgelände vor, das durch keinerlei Einfriedung abgesichert war.
Zu stehlen gab es hier ohnehin nichts. Niemand konnte Schiffe entführen, die sich im Bau oder in Reparatur befanden. Bei den Wachen am Hafenausgang waren alle diesbezüglichen Einzelheiten registriert.
Ayasli schob seinen Karren vorsichtig an die zum Hafenbecken gewandte Seite einer Dockanlage. Das Wasser reichte nur bis zur trichterförmigen Einmündung des Docks. Der Einmaster, den sie mittels Seilzügen zur Reparatur hineinbugsiert hatten, lag auf dem Trockenen.
Vorsichtig hob der Höllenfürst die Einzelteile seiner empfindlichen Fracht von der Ladefläche des Karrens. Als erstes ließ er das kleine Floß, das er gebaut hatte, zu Boden gleiten. Das Licht, das von den Hecklaternen der Schiffe herüberfiel, reichte ihm. Er konnte immerhin Umrisse erkennen.
Die eigentliche Bombe bestand aus zwanzig Kilogramm Schwarzpulver. Er hatte sich für die feinste Körnung entschieden, um eine absolut sichere Zündung zu gewährleisten.
Das Pulver befand sich in zwei aneinandergeschraubten Kisten, zwischen denen er in der Mitte einen Hohlraum ausgespart hatte. Der Hohlraum, mit Kalfaterpech und mehrfachen Lagen von Ölpapier wasserdicht verschlossen, enthielt die Lunte.
Das Ende hatte er Y-förmig geteilt, so daß jeweils ein Ende durch einen ebenfalls wasserdichten Zündkanal in die Pulverladung reichte. Die Windungen der Lunte, die für eine Stunde Brenndauer berechnet war, hatte er in dem Hohlraum durch dünne Metallplättchen voneinander getrennt. Dadurch vermied er, daß sich die Lunte an Berührungspunkten mehrfach entzündete, wodurch die Brenndauer verkürzt worden wäre.
Das Risiko, selbst mit in die Luft zu fliegen, wollte er natürlich ausschalten.
Die Luftzufuhr für die Lunten-Brennkammer erzielte er durch ein getrocknetes Schilfrohr von zwei Yards Länge, das er außen mit Pech angestrichen und dadurch gleichfalls wasserfest abgedichtet hatte. Das untere Ende des Rohrs mündete durch eine sorgfältig mit Pech verschmierte Öffnung in die Brennkammer.
Ayasli vergewisserte sich noch einmal, daß Öbüls Beschreibung stimmte.
Das Schiff der britischen Christenhunde lag ungefähr zweihundert Yards von der Werft entfernt an einer Pier.
Mit der Lunten-Brenndauer von einer Stunde würde es reichen.
Er mußte die Lunte zünden und die Kammer gründlich verschließen, bevor er losschwamm. Und er mußte gefahrlos zurückschwimmen können, um das Feuerwerk aus sicherer Entfernung beobachten zu können.
Er baute darauf, daß die Explosion der Unterwasserbombe das Schiff aufreißen und in Brand setzen würde. Entweder würde es durch raschen Wassereinbruch schnell sinken, oder es würde durch die explodierende Munitionskammer in Stücke gerissen werden.
Wenn die Engländer zurückkehrten, würden sie mächtig ins Staunen geraten.
Voller Vorfreude rieb er sich die Hände.
Philip Hasard Killigrew und seine Männer verharrten in dem Olivenhain oberhalb des verwinkelten Gemäuers. Rechtzeitig hatten sie die Laterne gelöscht und waren im Dunkeln weiter vorgedrungen.
Zwischen den Olivenbäumen war es stockfinster, aber das Gebäude, in dem sich die Werkstatt des Höllenfürsten befand, war recht gut zu erkennen. Nach wie vor war der Himmel sternenklar.
Nirgendwo brannte Licht. Und kein Laut war zu hören.
Hasard gewann den Eindruck, daß es sich nicht um ein gegenseitiges Belauern handelte. Dank Öbüls Geständnis ließen sich zwei und zwei leicht zusammenzählen. Der Höllenfürst mußte bereits unterwegs sein, um sein sogenanntes Meisterstück zu vollbringen.
Hasard, Ben Brighton, Dan O’Flynn und Don Juan de Alcazar drangen als erste zum Gebäude vor.
Abermals blieben sie bewegungslos stehen, als sie die Außenwand eines der verwinkelten Trakte erreichten.
Kein Laut war aus dem Haus zu hören.
Der Seewolf stieß einen leisen Pfiff aus – das Zeichen für die anderen. Sie rückten nach und kreisten das Gebäude innerhalb von Sekunden ein.
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