Alewa hatte einen Knebel im Mund stecken, und der eine Kerl, ein untersetzter Mann mit breitem, derbem Gesicht und einer speckigen Mütze auf dem Kopf, hielt sie fest, während der andere immer wieder nach allen Seiten Ausschau hielt.
Dieser zweite Pirat war groß und ausgesprochen kräftig gebaut. Er hatte sich ein buntes Tuch um den Kopf geschlungen. Von seinem linken Ohrläppchen baumelte ein Ring herab, der zweifellos aus Gold war. Sein Hemd hatte er über dem Bauchnabel zusammengeknotet. Seine Hosen reichten ihm nur bis zu den Waden, Schuhe schien er nicht zu besitzen. In seinem scharfgeschnittenen Gesicht fielen die klaren blauen Augen auf, die so kalt wie Eis zu sein schienen.
Hasard überlegte noch, ob er lieber seine Kameraden holen solle, statt allein zu handeln, da wurde ihm die Entscheidung durch die Entwicklung der Dinge abgenommen. Der Blauäugige wandte sich seinem Kumpan zu und raunte ihm etwas ins Ohr, was der Seewolf nicht verstehen konnte. Der andere Pirat nickte. Der Blauäugige erhob sich vorsichtig, schlich gebückt voran und gab somit die Richtung an. Der untersetzte Mann zerrte Alewa mit sich hoch, stieß sie voran und folgte dem anderen, der der Wortführer in dem Duo zu sein schien.
Zweifellos fühlten sie sich an diesem Platz nicht mehr sicher. Sie zogen sich lieber tiefer ins Dickicht zurück. Hasard mußte zugeben, daß der Blauäugige sich damit völlig richtig verhielt – von seiner Warte aus gesehen natürlich. Er schien scharf ausgeprägte Instinkte zu haben, ein Gespür für aufziehende Gefahren. Hasard saß den beiden Kerlen ja nun wirklich dicht auf dem Leib.
Als der Untersetzte Alewa vor sich her trieb und Hasard damit den Rükken zuwandte, zögerte Hasard nicht mehr. Er stand auf, schlich den Piraten nach, nahm den Cutlass in die linke Hand und hob die rechte, um einen brettharten Jagdhieb auf den Nacken des Piraten niedersausen zu lassen.
Er schlug mit voller Wucht zu, aber im selben Augenblick fuhr der Franzose zu ihm herum.
Damit brachte der Pirat sich in eine andere Position. Der Hieb, der ihn eigentlich hätte fällen müssen, traf seinen Rücken, nicht seine Nackenpartie. Hasard konnte den Schlag nicht mehr abstoppen. Jede Reaktion erfolgte zu spät.
Der Pirat stöhnte zwar auf, sackte in die Knie und ließ dabei Alewa los, aber er wurde nicht besinnungslos. Während sein vorn pirschender Kumpan herumwirbelte, griff er nach dem Entermesser in seinem Gurt, riß es heraus und stöhnte dabei: „Louis – Louis, Achtung!“
Hasard bediente sich wieder seines Beines, um den Widersacher kampfunfähig zu machen. Er trat ihm das Entermesser aus der Hand, bückte sich und schlug noch einmal mit der rechten Faust zu. Diesmal traf er besser als vorher. Der Untersetzte brach mit einem erstickten, keuchenden Laut zusammen.
Alewa hatte sich ebenfalls umgedreht und blickte aus ungläubig geweiteten Augen auf den Seewolf. In diesem Moment dachte sie wieder an Pele, die Göttin der Vulkane, und dankte ihr für die Gnade und die Hilfe, die sie ihr zuteil werden ließ – Pele hatte El Lobo del Mar, den Seewolf, direkt zu ihr geschickt.
Hasard wandte sich Louis zu.
Louis hatte sofort erkannt, von welchem Format der Kämpfer war, der da so blitzschnell über sie hergefallen war. Auf einen Zweikampf wollte er sich nicht unbedingt einlassen. Deshalb packte er Alewa, ehe diese zu dem Retter eilen konnte. Er riß sie zu sich heran, preßte sie an seinen Körper und hielt sie als lebenden Schutzschild vor sich fest. Die Schnapphahnschloß-Pistole mit den Perlmuttverzierungen drückte er ihr in die Seite.
„Zurück“, sagte er zu dem Angreifer. „Zurück, oder sie stirbt!“
Hasard kannte sich in der französischen Sprache gut genug aus, um die Worte zu verstehen. Selbst wenn er nicht begriffen hätte, was Louis sagte – die Lage sprach für sich.
Plötzlich stand er wie vom Donner gerührt da.
Er verfluchte sich selbst, weil er nicht doch wenigstens einen seiner Männer zu Hilfe geholt hatte.
„Gut“, zischte Louis. „Und jetzt weg mit der Waffe. Wird’s bald? Englischer Bastard, verstehst du mich nicht?“ In gebrochenem Englisch wiederholte er: „Wirf den Cutlass weg!“
Hasard wollte die Aufforderung schon befolgen, da handelte Alewa. Zu Hasards größtem Entsetzen beugte sie sich vor, rammte dem Piraten beide Ellenbogen in den Bauch und trat ihm zusätzlich noch auf den nackten Fuß. Louis stöhnte auf, ächzte, hielt aber weiterhin ihren Arm umklammert.
Sie riß sich los – und da drückte er auf sie ab. Hasard schloß in seiner Hilflosigkeit die Augen. Alewa befand sich zwischen dem Franzosen und ihm, er mußte erst an ihr vorbei, um sich auf den Kerl zu werfen, aber jede Aktion kam zu spät. Louis feuerte auf Alewas Rücken.
Doch das Krachen der Pistole blieb aus.
Nur das metallische Klicken des Schnapphahnschlosses war zu vernehmen. Hasard riß die Augen wieder auf und glaubte zu träumen. Aber es stimmte: Alewa lebte und taumelte auf ihn zu. Louis’ Pistole war nicht geladen gewesen, und sie mußte das gewußt haben, sonst hätte sie nie so scheinbar wahnwitzig gehandelt.
Louis schleuderte ihr die Pistole gegen den Rücken, stieß einen lästerlichen Fluch in seiner Mutterprache aus und drehte sich um. Er stellte sich nicht dem Kampf – er suchte sein Heil in der Flucht. Hasard wollte ihn stoppen, aber Alewa fiel ihm um den Hals. Die Pistole konnte ihr keinen großen Schmerz zufügen, und wenn sie es doch tat, dann kümmerte sie sich nicht darum und vergaß alles andere um sich herum unter dem Eindruck des grenzenlosen Glücksgefühls, das sie in diesem Moment durchflutete.
Sie hatte sich den Knebel aus dem Mund genommen und brachte ihre weichen Lippen dem Mund des Seewolfs näher.
„Mädchen“, sagte er auf spanisch. Spanisch beherrschte sie ziemlich gut, das hatte er von damals noch in Erinnerung. Thomas Federmann hatte vielen auf der Insel Hawaii diese Sprache beigebracht. „Mädchen“, sagte der Seewolf noch einmal. „Laß mich los. Ich muß diesem gemeinen Hund nach.“
„Bleib bei mir“, flüsterte sie.
„Alewa …“
„Pele hat dich geschickt. Ich lasse dich nie wieder fort. Du hast mir das Leben gerettet, Lobo del Mar.“
Louis war im Dickicht verschwunden. Hasard wollte sich sanft von Alewa befreien, aber ihre Lippen preßten sich auf seinen Mund, und sie klammerte sich an ihm fest. Er spürte ihren Körper an dem seinen und war mit einemmal wie benommen. Himmel, war dieses Mädchen denn von allen guten Geistern verlassen?
„Sir“, sagte Big Old Shane irgendwo im Dickicht. „Wo steckst du? Was ist los? Hölle und Teufel, so antworte doch! Ed, Dan, Ferris, habt ihr das gehört?“
„Ja“, antwortete Ferris Tucker.
„Mann“, wetterte der Profos. „Dieses verfluchte Scheißdickicht! Ich dreh gleich durch und laufe auf Grund, wenn nicht – he, was wird hier eigentlich gespielt?“
„Ed“, sagte Dan O’Flynn etwas weiter rechts. „Ganz ruhig bleiben. Profos, du wirst uns doch wohl nicht im Stich lassen, oder?“
„Wer spricht denn davon?“
Hasard mußte unwillkürlich lächeln. „Hier bin ich, Männer“, sagte er. „Etwas weiter südlich. Ich habe das Mädchen. Einen Piraten habe ich niederschlagen können, der andere ist getürmt – in Richtung Süden. Versucht, ihn zu fassen.“
„Aye, Sir“, tönte Carberrys Stimme. „Kurs Süden, Männer, und dann auf ihn mit Gebrüll! Aber wo, zur Hölle, ist Süden?“
„Hier!“ rief Dan O’Flynn. „Hierher, Leute!“
„Orientiert euch am Stand der Sonne“, sagte Shane.
„Wie denn, wenn sie gleich im Zenit steht?“ wollte Carberry wissen. Er fluchte, stapfte voran und ging dicht an seinem Kapitän und dem Mädchen vorbei, ohne sie zu sehen. Er malte sich in Gedanken aus, was er alles mit dem flüchtigen Piraten anstellte, wenn er den Kerl packte. Oh, was hatte er doch für eine Riesenwut im Bauch!
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