Drecksstück, verdammtes, dachte er, ich hatte gehofft, es würde dir das Genick brechen. Aber so ist es besser – ich kann dich lebend fassen und noch aus dir herausprügeln, wo die anderen stecken.
Er setzte sich auf den Abhang, gab sich einen Ruck und schlitterte auf dem Hosenboden nach unten.
„Louis, warte auf uns“, hörte er über sich noch Marcels keuchende Stimme.
„Mann, was ist denn bloß los mit dir, wieso hast du sie wieder losgelassen?“ rief Richard.
Louis kümmerte sich nicht weiter um sie. Er war viel zu wütend darüber, daß das Mädchen ihm entschlüpft war, wollte jetzt nicht mit seinen Kumpanen darüber debattieren und hatte überdies auch die Befürchtung, die Polynesierin würde sie nun endgültig überlisten und spurlos im Dickicht verschwinden.
Dieses Dickicht zog sich zwischen dem Fuß der Hügel und dem Pfahldorf wie ein breiter grüner Teppich dahin, stieg dann links und rechts der künstlich angelegten Terrassen auf und säumte die Felder. Wie eine einzige Moosfläche schmiegte es sich an die Hänge und ging später in dichten tropischen Regenwald über, der erst an der Vegetationsgrenze der Berge endete.
Louis langte auf der Terrasse an und lief geduckt auf seinen nackten Fußsohlen über die gehackte und bepflanzte Fläche. Er befand sich jetzt auf dem untersten Plateau, und dieses brach mit einem Hang ab, der nur etwa halb so hoch wie die anderen war. Alewa sprang soeben auf diesen Hang hinunter und entzog sich Louis’ Blick. Er fluchte und beschleunigte seine Schritte. Unten am Hang begann das Dickicht. Wer würde das Mädchen dort noch wiederfinden?
Im Voranstürmen warf Louis noch einmal einen Blick auf die Dreimast-Galeone, die inzwischen in die Bucht eingelaufen war. Natürlich hatten Richard, Marcel und er das Schiff von den Hügeln aus sehr gut beobachten können, seit es die im Süden liegende Landzunge umrundet hatte, und sie hatten sich auch die Frage gestellt, was das wohl für ein Schiff sei, welcher Herkunft die Besatzung war und welche Absichten der Kapitän haben mochte. Dann aber hatte Louis die leise Stimme des Mädchens aus dem Gebüsch vernommen. Alewa hatte sich durch ihre Unachtsamkeit selbst verraten, und die weitere Zeit war durch die Jagd der drei Piraten auf das Mädchen ausgefüllt gewesen.
Louis konnte gerade noch die Masten der Dreimast-Galeone über den Palmenwipfeln sehen, alles andere wurde durch die Baumstämme und das Gebüsch verdeckt. Louis war jetzt sicher, daß die Mannschaft des Schiffes hier, am Ufer der Bucht, landen wollte, vielleicht, um nach den Bewohnern des vernichteten Dorfes zu forschen. Er verfluchte die fremde Crew und die Neugierde ihres Kapitäns, rechnete aber damit, daß die zwei Männer, die er als Bewacher des Dorfes im Ufergestrüpp zurückgelassen hatte, den Unbekannten einen gebührenden Empfang bereiten würden.
Louis erreichte den Terrassenrand und blickte in das Dickicht hinunter, konnte von Alewa aber nichts mehr entdecken. Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Er stieß ein paar lästerliche Verwünschungen aus. Das, was er hatte vermeiden wollen, war eingetreten.
Doch plötzlich knallte unten, im Gesträuch am Strand, der Schuß eines seiner Kumpane. Ein paar Rufe waren zu vernehmen, von wem sie ausgestoßen worden waren, ließ sich nicht feststellen. Louis grinste plötzlich, denn erstens war er sicher, daß seine Spießgesellen dort unten für eine „gelungene Überraschung“ gesorgt hatten, und zweitens hatte er in diesem Moment im Dickicht eine Regung bemerkt.
Das Mädchen! Jetzt wußte er, wo sie steckte.
Alewa hatte sich in das dichte Gebüsch gekauert – in der Hoffnung, Louis, Marcel und Richard würden zwar noch eine Weile nach ihr suchen, es dann aber aufgeben.
Beim Krachen des Schusses zuckte sie jedoch zusammen und vollführte einen Satz nach vorn. Sie nahm in ihrer Panik an, Louis hätte die Pistole inzwischen nachgeladen und damit aufs Geratewohl in das Dickicht gefeuert. Aus Angst, getroffen zu werden, wechselte sie ihren Standort. Damit brachte sie Blätter und Zweige zum Rascheln und verriet sich zum zweitenmal an diesem Vormittag.
Siedend heiß sirrte es über Hasards Kopf weg. Die Kugel war für ihn bestimmt gewesen, und hätte er nicht den Waffenlauf im Gebüsch schimmern sehen, wäre er zweifellos getroffen worden.
Hinter sich hörte er den Profos, Ferris, Shane, Batuti und Dan gleichzeitig losfluchen. Sie hatten sich auch geistesgegenwärtig fallen lassen und hantierten mit ihren Waffen.
Hasard zielte so ruhig wie möglich auf die Stelle, an der er die gegnerische Waffe hatte aufblitzen sehen, und drückte ab. Der rechte Lauf seiner Reiterpistole ging los, die Waffe ruckte in seiner Faust. Im Krachen des Schusses hörte er den Aufschrei eines Mannes. Beide Geräusche verloren sich im Donnern der Brandung, die gegen die Insel anrollte, aber dann knallte es wieder im Dickicht, und zwar nur einen, höchstens aber anderthalb Yards links vom Standort des ersten Schützen entfernt.
Die Kugel stob vor dem Seewolf in den makellos reinen Sand des Strandes und riß eine kleine Fontäne hoch. Hasard feuerte den linken Pistolenlauf ab, aber ein Schrei blieb diesmal aus. Der zweite Schütze hatte wohl aus der schlechten Erfahrung seines Kumpans gelernt.
Zum drittenmal leckte ein Feuerblitz aus dem Dickicht hervor.
Pistole, dachte Hasard, als er das Blaffen der Waffe hörte. Erst haben sie ihre Musketen leer geschossen, jetzt bedient der zweite sich seiner Handfeuerwaffe. Der erste kann wohl nicht mehr schießen, aber sein Mitstreiter wird ihm die geladene Pistole abnehmen.
„Gebt mir Feuerschutz!“ rief Hasard seinen Männern zu.
Und schon war er auf den Beinen, wich nach rechts aus und hetzte mit leicht vorgebeugtem Oberkörper über den Strand. Schräg hinter ihm krachten die Tromblons los. Ein wahrer Bleihagel prasselte in das Gebüsch, doch ob der Gegner getroffen war, ließ sich nicht feststellen. Hasard rechnete damit, daß Carberry, Ferris Tucker, Shane, Dan O’Flynn und der Gambia-Mann zu hoch gehalten hatten, daß der Feind flach auf dem Boden lag und zu seinem verletzten oder toten Gefährten hinüberrobbte.
Hasard erreichte das Dickicht und sprang hinein. Er fragte sich nicht, ob der Kerl ihn wohl beobachtet hatte. Er arbeitete sich voran, zog seinen Cutlass, weil zum Nachladen der Doppelläufigen keine Zeit blieb, und war darauf gefaßt, den Gegner jeden Moment vor sich aus dem dunkelgrünen Vorhang hervorbrechen zu sehen.
Schwer wog der Cutlass in seiner rechten Hand.
Am Strand belferten jetzt die Pistolen los. Die fünf von der „Isabella“ taten ihr Bestes, um ihrem Kapitän Schutz zu geben, aber mehr würden sie nicht unternehmen, um ihn jetzt, da er im Gestrüpp verschwunden war, nicht zu gefährden. Batuti und Shane verzichteten darauf, auch Pfeil und Bogen einzusetzen. Ferris Tucker sparte sich die Flaschenbomben für später auf, falls er sie dann überhaupt noch brauchte. Sicher, er hätte vorher auch einfach eine Höllenflasche anzünden und ins Gebüsch schleudern können, dadurch hätten sie schnell mit dem Gegner aufgeräumt und sich jeden weiteren Kampf erspart. Aber dazu brauchte er Hasards Befehl.
Und diesen Befehl wollte der Seewolf nicht geben. Bevor er aufs Ganze ging und alle Register zog, wollte er wissen, mit wem er es zu tun hatte, und die Situation klar erkennen.
Carberry und die vier anderen stellten das Feuer ein. Sie robbten jetzt sicherlich über den Strand auf das Dickicht zu. Und der unverletzte Pirat – Hasard nahm zumindest an, daß er nicht getroffen worden war – trachtete in diesem Augenblick, die Pistole des Kumpans an sich zu bringen.
Ein langgezogenes Stöhnen aus dem Buschwerk wies Hasard den Weg, den er zu nehmen hatte. Fast konnte man hier im Dickicht die Orientierung verlieren, das dichte, verfilzt wirkende Niedriggehölz, das Hasard bis zum Kopf reichte, war ein einziges Labyrinth.
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