„Ich hole die anderen“, sagte Marcel. „Die haben die Schüsse ohnehin gehört und sind hierher unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen. Wir brauchen Verstärkung, Louis, um mit der Drecksmannschaft dieses elenden Schiffes fertig zu werden.“
„Gut“, meinte Louis. „Richard und ich, wir verstecken uns solange mit dem Luder hier im Dickicht. Wir müssen bloß den Standort wechseln, sonst haben wir sie gleich alle auf dem Pelz. Richard, stopf diesem Hurenstück das Maul, damit sie nicht wieder losschreien kann.“
„In Ordnung“, sagte Richard, während Marcel sich bereits zurückzog. Er riß einfach einen Fetzen Stoff von seinem Hemd los, knüllte es zusammen und steckte es Alewa zwischen die Zähne, als der Kumpan sie hochzerrte und vor ihm festhielt.
„Komm“, flüsterte Louis seinem Begleiter zu. „Wir verstecken uns und belauern diese dreckigen Hurensöhne. Wenn Marcel mit den anderen zurückkehrt, gibt es einen Feuerzauber, der sich sehen lassen kann, das schwöre ich dir.“
Er zerrte Alewa durch das Dickicht mit sich fort. Richard folgte den beiden.
Der Seewolf hastete seinen Männern voran und trieb mit dem Cutlass einen Weg in das Dickicht. Er strebte auf die Hügel zu, orientierte sich an dem Schrei, den das Mädchen zuletzt ausgestoßen hatte, rechnete aber auch damit, daß er sie an jenem Platz nicht mehr antreffen würde. Wenn die Piraten sie noch nicht gefaßt hatten, würde sie bestimmt weiterhin in panischer Flucht durch das Gebüsch irren.
Und wenn die Kerle sie schon gepackt hatten? Was war dann?
Hasard drosch mit dem Cutlass auf das Gestrüpp ein und fühlte sich von dem wütenden, unerbittlichen Drang beseelt, die Freibeuter zu stellen und vor die Klinge zu holen.
Französische Piraten also – welcher Teufel hatte sie geritten, auf Hawaii zu landen und das Paradies zu zerstören? Hier gab es an Schätzen nichts zu holen, nichts zu heben, hier gab es eigentlich nichts, weswegen man längere Zeit verweilen konnte, es sei denn, man war ein Schöngeist wie Thomas Federmann, der sich mit seinem Leben dieser exotischen Welt verschrieben hatte.
Die Frauen und Mädchen! War es das? Waren die Kerle nur hierhergekommen, um sich austoben zu können und sich die Polynesierinnen eine nach der anderen vorzunehmen? Nein, das war zu ungeheuerlich. Hasard wagte nicht, den Gedanken weiterzuführen.
Er war jetzt ungefähr an dem Punkt angelangt, an dem er den Schrei des Mädchens gehört hatte. Er blieb stehen und senkte den Cutlass. Hinter ihm rückten Carberry, Shane, Ferris und Dan auf.
Batuti war Hasards Anordnung gemäß bei dem toten und dem bewußtlosen Piraten geblieben.
Hasard drehte sich zu seinen vier Männern um und raunte ihnen zu: „Es hat keinen Zweck, daß wir so weitersuchen. Wir schwärmen jetzt aus und sehen zu, daß wir uns so leise wie möglich bewegen. Ich habe mit dem Cutlass schon zuviel Lärm gemacht.“
„Ist gut“, flüsterte Dan O’Flynn. „Das heißt also, wir pirschen wie die Indianer weiter?“
„Ja.“
„Besteht nicht die Gefahr, daß wir uns aus den Augen verlieren und dann gegenseitig über uns herfallen?“ wisperte der Profos. Es fiel ihm sichtlich schwer, so leise zu sprechen.
„Ed“, raunte der Seewolf so eindringlich wie möglich. „Es bleibt unserem Können überlassen, daß das nicht geschieht. Verstehst du mich? Ehe wir handeln, müssen wir uns genau vergewissern, daß wir auch wirklich den Gegner vor uns haben.“
Alle vier nickten, sogar Dan verkniff sich diesmal eine Bemerkung, die er an den Profos richten wollte.
Sie trennten sich und strebten nach links und nach rechts, also nach Norden und Süden auseinander.
Hasard schob sich mit größter Vorsicht voran und bog die Zweige so zur Seite, daß sie kaum raschelten. Auch von seinen Männern vermochte er jetzt nichts mehr zu hören. Stille hatte sich über das Dickicht gesenkt. Sie wurde nur durch das Rauschen der Brandung und das Kreischen einiger Seevögel gestört.
Ben Brighton und die anderen an Bord der „Isabella“ verhielten sich abwartend. Ben hätte ohnehin nur auf einen Befehl seines Kapitäns hin etwas unternommen. Außerdem hatte der Seewolf dem Gambia-Mann die Order gegeben, zum Schiff hinüberzusignalisieren und Siri-Tong und den Männern bekanntzugeben, daß das Landunternehmen bislang ohne Verluste abgelaufen sei und der kleine Trupp jetzt weiter nach dem Mädchen forsche. Die wichtigste Phase des Kampfes am Strand hatten die auf der „Isabella“ Zurückgebliebenen ja sowieso durch ihre Kieker verfolgen können. Für den Rest würde Batuti sich einiger gut verständlicher Zeichen bedienen, die sie alle kannten.
Hasard verharrte.
Schräg rechts vor sich hatte er ein feines Geräusch gehört. Eine Art Knacken war es gewesen – oder ein Knistern? Egal, dachte er. Behutsam glitt er weiter, Zoll um Zoll, Fuß um Fuß, und glaubte jetzt jemanden atmen zu hören. Er war sicher, auf dem richtigen Pfad zu dem Polynesiermädchen zu sein und nicht etwa ein Tier des Dschungels vor sich zu haben. Unbeirrt pirschte er weiter vor.
Das Anschleichen konnte auch ein Seemann, ein Korsar Ihrer Majestät, Elizabeth I. von England, durchaus fachgerecht lernen. Waren sie, die Seewölfe, nicht lange genug in der Neuen Welt und im Fernen Osten gewesen, hatten sie nicht engen Kontakt mit der Urbevölkerung gehabt? Vieles hatten sie von diesen Menschen abgeschaut, viele Fertigkeiten und Techniken, die in der Alten Welt bei weitem nicht so entwickelt waren. Gerade die Urwaldstämme – und das traf für alle Kontinente zu – waren Meister im lautlosen Anpirschen.
Hasard bewegte sich jetzt so geschickt durch das Dickicht, daß er weder einen Laut verursachte noch die Blätter und Zweige der Sträucher mehr als eben nötig berührte. Er hatte sich auf alle viere niedergelassen, hielt den Cutlass in der Rechten, achtete aber darauf, daß er mit der Klinge nirgends anstieß.
Dann vernahm er wieder einen Atemzug, dicht vor sich.
Kurz darauf flüsterte jemand etwas auf französisch.
Hasard fühlte seine innere Anspannung bis ins Unerträgliche wachsen. Sollte er jetzt aufspringen und sich auf die Kerle stürzen? Nein, das konnte nie und nimmer die richtige Taktik sein, denn wenn sich das Mädchen schon in ihrer Gewalt befand, gefährdete er es nur durch sein unüberlegtes Handeln.
Sie können dich nicht bemerkt haben, dachte er, nutzte das aus.
Immer langsamer arbeitete er sich voran. Er verengte die Augen zu Schlitzen, spähte zwischen den Feuchtigkeit ausdampfenden Blättern voraus, um möglicherweise etwas von dem oder den Feinden zu entdecken – und dann, ganz plötzlich, sah er sie wirklich.
Fast zum Greifen nah kauerten sie im Gebüsch. Zwei Männer – und das Mädchen. Hasard schob sich so behutsam, als könne er etwas zerbrechen, noch um einige Zoll weiter vor und konnte nun ihr Gesicht, ihre angstgeweiteten Augen erkennen.
Alewa, dachte er bestürzt.
Ja, jetzt hatte sich auch diese Ahnung bewahrheitet. Er kannte sie. In den sechs Jahren, die inzwischen vergangen waren, war sie reifer und fraulicher geworden, aber er wußte auf Anhieb, daß sie das eine Mädchen aus dem Quartett von damals war, das de Galantes an Bord des schwarzen Seglers entführt hatte. Gerade die Mädchen hatten dann dazu beigetragen, daß de Galantes doch gescheitert war, denn sie hatten ihm ein Pülverchen verabreicht, das ihn eingeschläfert hatte. Damit hatte das Verhängnis für ihn erst richtig begonnen. Dann hatten auch noch seine Männer gemeutert, und es war ausgewesen. Hasard und Siri-Tong, der Wikinger und alle anderen hatten das schwarze Schiff zurückerobern können.
Wie konnte man jemals die Ereignisse von damals vergessen? Sie waren für immer in Hasards Geist verhaftet, und er vergaß auch nicht die Tapferkeit, mit der die Mädchen seinerzeit vorgegangen waren.
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