Shane und Ferris Tucker marschierten auch an Hasard und Alewa vorbei, trafen sich wenig später mit dem Profos, entdeckten aber von dem Piraten Louis keine Spur mehr. Dieser war im Gestrüpp untergetaucht und suchte mit der Angst im Nacken nach seinen Kumpanen, nach Marcel und den anderen, die bald eintreffen mußten.
Dan O’Flynn stieß genau auf den Seewolf und die befreite Polynesierin. Er blieb dicht vor ihnen stehen, kratzte sich etwas verlegen und leicht belustigt am Kopf und meinte dann: „Also, das ist mal eine gelungene Überraschung. Ich will ab sofort nicht mehr O’Flynn heißen, wenn das nicht die kleine Alewa ist.“
Alewa ließ vom Seewolf ab, blickte Dan an und stieß einen kleinen, entzückten Laut aus. Sie trippelte zu ihm hinüber, stellte sich auf die Zehenspitzen wie bei Hasard, legte Dan die Hände auf die Schultern und drückte dann auch ihm ein paar Küsse auf.
Hasard grinste. „Bei den Menschen von Hawaii ist das eine ganz normale Begrüßung“, sagte er. „Man soll sich nicht mehr dabei denken, als unbedingt erforderlich ist.“
Dan kriegte wieder Luft und rief: „Bei den Mädchen von Hawaii ist alles ganz normal, oder?“
„Dan, wir sollten das lieber ein andermal erörtern, findest du nicht auch?“
Dan nickte, lachte, blickte dem bildhübschen Mädchen in die Augen und fragte sie auf spanisch: „Haben die elenden Hunde dir auch nichts getan, Alewa?“
„Nein“, entgegnete sie. „Aber sie hätten Böses getan, wenn ihr nicht gekommen wäret.“
„Was ist hier passiert?“ wollte der Seewolf wissen.
Sie sah zu ihm hinüber, und ihr Blick wurde traurig. „Schlimmes, aber wir müssen hier weg, Lobo del Mar. Andere Männer können jeden Moment auftauchen. Gefahr, große Gefahr …“
„Alewa“, sagte Hasard. „Waren es nicht drei Kerle, die dich verfolgten?“
„Ja. Einer ist fort, um die anderen zu holen. Er heißt Marcel.“
„Ed, Ferris und Shane!“ rief der Seewolf. „Sofort zu mir!“
„Hier, Sir.“ Carberry war als erster zur Stelle. Er teilte mit seinen mächtigen Händen das Dickicht und trat auf die beiden Männer und das Mädchen zu. Er deutete eine Art Verbeugung zu Alewa hin an und zeigte einen Anflug von Verlegenheit. „Äh, wir haben diesen verlausten Hundesohn nicht mehr packen können“, sagte er.
„Wir lassen ihn laufen“, erwiderte der Seewolf. „Es hat keinen Zweck, nach ihm zu suchen. Jeden Augenblick kann es hier von Piraten wimmeln, und wenn sie uns erst umzingelt haben, haben wir keine Chance mehr, uns freizukämpfen.“
„Du vergißt, daß wir noch die zwei Flaschenbomben haben“, sagte Ferris Tucker. Er erschien neben dem Profos, grinste breit und streckte Alewa seine rechte Hand entgegen. Selbstverständlich hielt er dies für die richtige Art der Begrüßung. Aber Alewa schritt lächelnd auf ihn zu, stellte sich wieder auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuß auf die Wange. Dasselbe tat sie bei Ed Carberry und gleich darauf auch bei Big Old Shane, der mit Pfeil und Bogen in den Fäusten aus dem Strauchwerk trat.
Carberry rieb sich verdutzt die Wange. Sein Blick glitt über die Gestalt des halbnackten Mädchens. Ein voll ausgereifter Körper war das, mit allen Attributen, die einen normalbeschaffenen Mann binnen weniger Minuten komplett um den Verstand bringen konnten.
„Hasard, Sir“, sagte Carberry. „Das, äh, können wir doch nicht dulden. Ich meine, dein Befehl – der, nun …“
„Laß nur, Ed“, unterbrach der Seewolf sein Gestotter. „Das ist die hierzulande übliche Art, gute alte Freunde zu begrüßen.“
„Im übrigen hat mein Alter gesagt, daß man für die Mädchen von Hawaii auch väterliche Gefühle entwickeln kann“, erklärte Dan O’Flynn mit spitzbübischem Grinsen.
„Ja, der alte Donegal“, murmelte Ferris Tucker. „Der hat es auch faustdick hinter den Ohren, das sage ich euch.“
Shane lachte rauh, auf. „Männer, einen Kuß in Ehren kann niemand verwehren. Ein Schurke ist, wer was Schlechtes dabei denkt.“
Alewa stand neben ihm und legte den Kopf ein wenig schief. „Was sagt er, Lobo del Mar?“ fragte sie auf spanisch.
Hasard erklärte es ihr, und sie lachte silberhell.
Carberry war das Ganze irgendwie peinlich und nicht ganz geheuer, er trat jetzt lieber zu dem Bewußtlosen und tippte dessen reglose Gestalt mit der Stiefelspitze an. „Was machen wir mit dem hier? Den lassen wir doch nicht einfach so liegen, oder?“
„Er heißt Richard“, sagte Alewa.
„Fein“, sagte Dan O’Flynn. „Ich schätze, wir nehmen ihn als Geisel mit, nicht wahr?“
„Allerdings.“ Hasard gab seinem Profos und Shane einen Wink, und die beiden hoben den besinnungslosen Piraten auf, als handle es sich um einen Sack voll Daunen. „Wir tragen ihn zum Strand, nehmen auch den anderen Kerl mit und kehren an Bord der ‚Isabella‘ zurück, um zu beratschlagen“, fuhr der Seewolf fort. „Bevor Alewa uns nicht alles genau geschildert hat, können wir keinen richtigen Plan schmieden, wie wir die anderen Freibeuter am besten von der Insel vertreiben.“
Er griff nach Alewas Hand, zog sie mit sich fort und setzte sich an die Spitze seines kleinen Trupps. Sie kehrten auf den Pfad zurück, den er vorher mit dem Cutlass durch das Dickicht getrieben hatte, und trafen kurz darauf bei Batuti ein, der sie schon ungeduldig erwartete.
Alewa beugte sich interessiert über den bärtigen Seeräuber, der immer noch ohnmächtig dalag und Arme und Beine von sich streckte. Der Gambia-Mann hingegen betrachtete das Mädchen mit sichtlichem Wohlgefallen. Als er aber bemerkte, daß Hasard und der Profos zu ihm herüberblickten, wandte er sich schleunigst ab.
Dan O’Flynn deutete auf den bärtigen Franzosen. „Eine gute Handschrift hast du, Ed, das muß man dir lassen.“
„Danke“, sagte Carberry.
„Der Mann – ich kenne auch seinen Namen“, ließ sich Alewa vernehmen. „Er heißt Luc.“
„Großartig“, kommentierte Big Old Shane. „Dann hätten wir also Richard und Luc, und Louis ist uns entwischt. Im Gebüsch liegt ein Toter, Alewa, aber dessen Namen werden wir wohl nicht mehr erfahren.“
Alewa warf einen Blick in das Dikkicht, fuhr unwillkürlich zusammen, als sie die Leiche des Freibeuters sah, und sagte: „Jean – einer unserer Bewacher aus dem Pfahlhüttendorf. Ein grausamer Kerl.“
„Um ihn ist es nicht schade“, brummte der Profos. „Und um die anderen, die noch wie die Fliegen krepieren, wenn wir erst mal richtig losschlagen, auch nicht.“ Er hatte immer noch eine höllische Wut im Leib.
„Ed, nimm den Mund lieber nicht zu voll“, warnte der Seewolf. „Du weißt ja, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.“
„Aye, Sir“, sagte Carberry. Er griff mit Widerwillen nach der speckigen Mütze, die Richard soeben vom Kopf zu rutschen drohte, stülpte sie dem Burschen wieder über und setzte sich dann in Bewegung, um den immer noch Bewußtlosen mit Shane zusammen zur Jolle zu schleppen. Der Seewolf, Dan O’Flynn und das Mädchen Alewa hatten sich bereits wieder in Marsch gesetzt. Batuti und Ferris Tucker bückten sich nach Luc, dem Bärtigen, hoben ihn vom Strand auf und trugen ihn ebenfalls auf die rauschende, gischtende Brandung zu.
Die Sonne stand jetzt hoch im Zenit und brannte mit erstaunlicher Macht auf Hawaii nieder. Sie wärmte die Decks der wartenden „Isabella“ und hätte die Seewölfe heiter gestimmt, wenn nicht die Bedrohung durch die französischen Freibeuter gewesen wäre.
Louis hatte sich zuerst in südlicher Richtung bewegt, dann aber einen Bogen geschlagen und pirschte jetzt nach Norden, weil Marcel und die anderen von dorther auftauchen würden. Louis konnte es kaum erwarten, mit ihnen zusammenzutreffen, denn in ihm gärten der Haß und der Wunsch nach blutiger Rache. Mit einem starken Trupp würde er die Engländer verfolgen und aus dem Hinterhalt niederschießen.
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