„Was ist denn das für ein Mist?!“
Aus dem Wasserhahn kam ein Schwall braunes stinkendes Wasser. Sollte ich mir etwa damit die Haare waschen?
„Diese scheiß Bruchbude! Wie kann man nur so leben?“
Ich ließ das Wasser in der Badewanne eine Viertelstunde lang laufen, bis einigermaßen klar aussah und ich meinen Haare den Kontakt damit zumuten konnte. Haarewaschen und Duschen waren hier – wie alles andere – das reinste Abenteuer. Die Temperatur beim Duschen wechselte ständig zwischen heiß und saukalt, wenn nicht gerade eine braune Brühe die Brause verstopfte. Wäre das Fitnesscenter nicht so weit von hier entfernt gewesen, wäre ich ins Taxi gesprungen, um dort zu duschen. Meine Mitgliedschaft dürfte mein Vater wohl nicht für mich gekündigt haben, aus diesen Verträgen kam man nicht so leicht raus. Nur war eine Taxifahrt quer durch München momentan für mich unerschwinglich. Nach dem anstrengenden Tag im Tierheim hatte ich den Bus verpasst und viel zu viel Geld für das Taxi ausgegeben. Zu Hause durfte ich dann feststellen, dass ich weder Spülmittel noch Waschmittel im Haus hatte und musste nochmal los in den Supermarkt.
Mein Shampoo ging auch langsam zur Neige, das alleine kostete bereits vierzig Euro, die restlichen Pflegeprodukte nicht mitgerechnet. Wenn ich noch die Kosten für das bestellte Essen mitrechnete, dürfte ich spätestens nach einer Woche pleite sein. Ich brauchte schleunigst eine Idee, wie ich mein Konto auffüllen konnte. Da mein Vater mir großzügigerweise einen Internetanschluss gönnte, schrieb ich einen befreundeten Fotografen an, ob er mal wieder einen Modeljob für mich hätte. Auffälliger konnte ich es nicht angehen, ansonsten wüsste bald die gesamte Society von meiner Situation und ich könnte in Zukunft nur noch mit einer Tüte über dem Kopf rausgehen. Es gab übrigens in nächster Zeit keinen Modeljob für mich. Auch sonst bekam ich nur Werbung und dubiose Angebote zugeschickt, die mir alle nicht weiterhalfen. Ich hätte mir natürlich etwas von Clarissa leihen können, aber so tief war ich dann doch nicht gesunken. Zum Glück kam mir nach dem Abendessen, bestehend aus Lieferpizza und Fertigtiramisu, die rettende Idee. Das würde locker ein paar tausend Euro bringen, auch wenn mein Herz bei dem Gedanken daran blutete. Und wenn ich meine Kartons so ansah, wäre ich das gesamte Wochenende damit beschäftigt.
„Freitag bis Montag in dieser Abstellkammer, die ich immer noch nicht als Wohnung bezeichnen kann, verbringen. Gefängnis könnte kaum schlimmer sein“, jammerte ich vor mich hin. Dann machte ich mich zähneknirschend an den ersten Karton. Ich breitete gerade den Inhalt auf meinem Bett aus, als es an der Tür Sturm läutete.
„Ja, ich komm ja schon!“
Mit nassen Haaren und einem abgebrochenen Fingernagel öffnete ich die Tür. Und hätte besser vorher durch den Spion geschaut ...
„Hiii Süße!“
Clarissa stürmte mit unserer gemeinsamen Freundin Roxy in meine Wohnung. Ich war so verdattert, dass ich keinen Ton herausbrachte.
„Wieso gehst du nicht mehr ans Telefon? Ich rufe seit gestern pausenlos bei dir an“, sagte Clarissa.
„Ja ... ich hatte viel zu tun.“
„Das ist ja cool hier“, sagte Roxy. Während Clarissa mit spitzen Fingern einen Stuhl zurechtrückte, bekam Roxy leuchtende Augen beim Anblick meiner Einrichtung. Sie liebte alles, das mit dem einfachen Leben zu tun hatte, wie sie selbst sagte. Am liebsten würde sie wohl ein Praktikum in der Suppenküche machen, um endlich einmal zu erleben, wie es „ganz unten“ war. Clarissa dagegen reagierte so, wie ich es befürchtet hatte.
„Okay, was ist das hier?“ Sie sah sich irritiert und leicht angeekelt um. „Bei euch zu Hause hat man mir diese Adresse gegeben. Ich dachte schon, die wollten mich verulkten, eigentlich sind wir nur just for fun hierher gefahren. Was machst du hier? Wo ist deine richtige Wohnung?“
Sie anzulügen sah ich als einzige Möglichkeit, mein Image und meine Würde nicht komplett zu verlieren.
„Ich hab mich für eine neue Dokusoap beworben. So was Ähnliches wie Big Brother, nur mit Prominenten, die in ärmlichen Verhältnissen leben müssen. Das hier ist sozusagen die Vorbereitung.“ Na bitte, wenn es darauf ankam, war ich immer noch schlagfertig.
Clarissa klappte die Kinnlade nach unten. „Oh mein Gott ... er hat dich rausgeworfen und die Kreditkarten gesperrt!“, rief sie entsetzt.
„Ja ... aber das ist nur ...“ Ich druckste herum. „Ach scheiße, du hast recht. Wir hatten einen heftigen Streit. Er hat mich provoziert, ich habe ihn beschimpft, und jetzt bin ich hier.“
Die ganze Situation war schon schlimm genug, nicht aber so demütigend wie der Blick, mit dem Clarissa mich ansah. Er sollte wohl Mitleid ausdrücken, bekam aber durch den Ausdruck ihrer Augen einen überheblichen Touch. Als wir uns damals in der Schule kennengelernt hatten, musste ich diesen Blick häufig ertragen. Die erste Zeit hatte ich sie dafür gehasst. Ich war die Neue, die Außenseiterin, die bis dahin eine Schuluniform für ein versnobtes Kostüm gehalten hatte und ihr Pausenbrot selbst mitbrachte. Clarissa und die anderen Mädchen trugen die Nasen so weit oben, als wären sie mit der britischen Queen verwandt, und drangsalierten aus lauter Langeweile die Neulinge. Nach zwei Monaten in dieser Horrorschule hatte mich Clarissa eines Tages heulend in der Mädchentoilette erwischt. Erst hatte ich ihr eine reinhauen wollen, aber sie hatte mich in die Arme genommen und mir zugehört. Sie hatte mir gestanden, dass sie mit den wenigsten Mädchen dort befreundet war und es ihr am Anfang nicht anders ergangen war als mir. Nur mit dem Unterschied, dass für sie auch zu Hause keine Schulter zum Anlehnen existierte. Ihre Eltern hatten sie von einem Internat zum nächsten geschickt, und wenn sie sich mal in den Ferien zu Hause begegneten, wurde ihr eingeredet, etwas Besseres sein zu müssen. Das hatte sich ihr eingeprägt, doch seit diesem Gespräch auf der Schultoilette waren wir Freundinnen und vertrauten einander. Roxy hatten wir erst nach der Schulzeit kennengelernt, als sie nach Grünwald zog. Ihr Vater war Musikproduzent, die Mutter lebte auf Hawaii mit einem jungen Surfer. Für Roxy schien das kein Problem zu sein. Wer schon mit Rockstars gefeiert und den Spleen einiger Popqueens erlebt hatte, machte sich wohl nicht viele Gedanken über das Leben oder was andere von einem halten könnten. Das zeigte sich auch in ihrer ganzen Aufmachung. Der kinnlange hellblonde Pagenschnitt stand ihr ganz gut, auch wenn die pinkfarbenen Strähnen schon ewig nicht mehr im Trend lagen, doch Roxys Klamotten verursachten Clarissa regelmäßig Kopfschmerzen. Roxy gab einen Schiss auf die neuesten Trends, sie zog das an, was ihr gerade gefiel, und das in den unmöglichsten Kombinationen. Ich fand sie einfach nur witzig und süß, sie hatte so eine erfrischende Art, die mich schon öfter aus einem Stimmungsloch geholt hatte.
„Wie geil ist das denn, ist das ein Röhrenfernseher!? Und diese alten Möbel! Voll der Retro-Style.“
Das war Roxy. Ich hätte dieses Zeug am liebsten aus dem Fenster geworfen, vor allem den prähistorischen Fernseher mit der Bildröhre. Aber für die kleine Roxy in ihrer geblümten Schlaghose lebte ich in einer „voll geilen Bude.“
Clarissa dagegen entgleisten die Gesichtszüge. Sie sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
„Wie lange sollst du hier leben?“, fragte sie, die Augen auf die braune Cordcouch gerichtet.
„Hoffentlich nicht lange.“ Ich zündete mir eine Zigarette an und öffnete die Balkontür einen Spalt. Ja, es gab hier tatsächlich etwas, das man Balkon nennen konnte. Ungefähr drei Quadratmeter groß mit Blick auf die Straße vor dem Haus.
„Bisschen laut, findest du nicht?“, sagte Clarissa.
„Ach, das mit der Straße geht eigentlich. Viel schlimmer ist diese Sippschaft über mir. Ich glaub, bei denen gibt es keine normalen Unterhaltungen, es hört sich immer so an, als würden die streiten. Und der tropfende Wasserhahn ist eine Zumutung!“
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