Sie hatte ihn, seine Eltern, sowie den Bruder Felix mit seiner Familie in der Schwaige kennengelernt, als man sich am letzten Abend vor der Schließung am 24. Dezember noch bis spät unterhalten hatte. Niemand hatte Lust gehabt, bereits um sechs nach Hause zu gehen, wie bei dem Adventstreffen im Jahr zuvor. Das war erst vor zwei Jahren gewesen. Dominic hatte im Frühjahr seine Lebensgefährtin an einen anderen Mann verloren und war an diesem Winterabend zum ersten Mal wieder der alte gewesen, wie sie von seinem Vater hinter vorgehaltener Hand erfahren hatte.
Das Familientreffen am 23. Dezember war zur netten Tradition geworden. Das Gleiche hatten sie zum Hochzeitstag der Eltern, dem 24. August, eingeführt. Für diese festen Termine reservierten Kathi und Alice die Tische oder gar die gesamte Stube, wie im letzten Dezember, als auch einige gute Freunde an dem Familienessen teilnahmen. Bei diesen Treffen bedienten Alice und Kathi nicht mehr nur, sondern sie nahmen am Fest teil. Es gab viel zu lachen, und nicht selten wurden zu später Stunde die Stühle und Tische an die Wand gestellt und man tanzte ausgelassen bis weit nach Mitternacht.
Sie hatte Glück und erblickte Dominic durchs Fenster, denn eigentlich hätte er noch bis 15 Uhr geschlossen gehabt. Er öffnete ihr, und sie betrat den Ausstellungsraum, ein uraltes Gewölbe, hinter dem sich der zweite Raum befand, an dessen hinterer Schmalseite Dominic in der Regel an einer seiner Kreationen arbeitete.
Sofort nahm sie den angenehm beruhigenden Holzgeruch wahr. Die Einrichtung hatte er selbst geschaffen, sie passte stimmig zu den angebotenen Produkten.
Dominic hielt eines seiner abstrakten neueren Kunstwerke in Händen, und wieder einmal fiel Kathi auf, wie attraktiv er war. Sie wusste um seine Wirkung auf Frauen und wunderte sich, dass er keine neue Beziehung eingegangen war, nachdem seine große Liebe ihn vor zwei Jahren verlassen hatte.
Er war 36 Jahre alt und ohne Kathis plötzlicher Entdeckung ihrer Liebe zu Ennio hätte es vielleicht zwischen ihnen auch gefunkt. Anfangs hatte sie nämlich öfter das Gefühl beschlichen, er empfände mehr für sie als nur Sympathie.
Mit seinen 1,90 war er schlank und sehnig, was bei seinen Hobbys kein Wunder war. Als passionierten Jäger und Fotografen trieb es ihn hinaus in die Natur, so oft es seine Zeit erlaubte. Sein Weg führte ihn in den Bergwald und hinauf auf Almen und Gipfel, immer auch auf der Suche nach einer interessant aussehenden Wurzel oder einem Stück Zirbelholz. Aus diesen fertigte er dann die besonderen Einzelstücke, wie etwa einen Christus oder eine Wurzelkrippe. Einige seiner abstrakten Wurzelwerke hatte sie bereits für ihr Zimmer gekauft oder an liebe Freunde und Verwandte verschenkt.
Auch heute trug er wie immer die obligatorische blaue Arbeitsschürze Südtirols. Sein Haar war wellig und reichte ihm in der Regel bis auf die Schultern. In der Regel, denn heute vermisste sie mit leichtem Bedauern sein dichtes, schwarzes Haar.
»Holla, grüaß di«, rief sie lächelnd aus und betrachtete ihn mit seinem raspelkurzen Haarschnitt von allen Seiten. »Du warst beim Frisör, wie man unschwer feststellen kann. Wenn wir Frauen uns zu einem Radikalschnitt entscheiden, wird uns immer ein neuer Lebensabschnitt oder eine große Lebensveränderung unterstellt. Wie ist es damit bei dir? Hast du dich verliebt, verlobt, verheiratet?«
»Nein, ich war es bloß leid, mir jeden Tag die langen Haare stundenlang zu föhnen und immer wieder aufs Neue zu ondulieren. Vom Färben ganz abgesehen«, antwortete er mit einem Grinsen und legte die Wurzel ins Regal.
Sie war versucht, ihm über den schwarz-grau-melierten Bürstenhaarschnitt zu streicheln, aber so weit ging ihre Freundschaft nicht. »Also kein neues Weibsbild, auf das ich eifersüchtig sein muss?«, vergewisserte sie sich.
»Leider nein.«
»Gott sei Dank«, seufzte sie übertrieben. »Aber ich hab Neuigkeiten: Ich werde mich Sonntag verloben.«
Sein Kopf zuckte hoch. »Herzlichen Glückwunsch«, erwiderte er.
»Nein«, rief sie erschrocken aus. »Man gratuliert doch nicht vorher!«
Er hob abwehrend die Arme. »Entschuldige. Wer, wenn man fragen darf, ist denn der Glückliche? Oder ist das noch ein Geheimnis?«
»Nein. Es ist Ennio Lambacher.«
Er neigte den Kopf, nahm eine Christus-Figur aus dem Regal und betrachtete sie beiläufig. »Der Ennio, so so.«
Kathi runzelte die Stirn. Begeisterung klang anders. »Du kennst ihn?«
»Freilich, vom Skiverein.«
»Ach so.« Sie entschied, nicht weiter auf das Thema einzugehen, denn so richtig erfreut hatte Dominic nicht geklungen, weder über ihre Verlobung noch über ihren Verlobten. »Ansonsten alles gut bei euch?«
Dominic wohnte in seinem Elternhaus oberhalb seines Geschäfts, zusammen mit seiner Mutter. Maria stand in der Hochsaison immer mit im Laden, außerdem bemalte sie seine Kunstwerke oder schmückte die Krippenfiguren mit herrlichen Kleidern aus Leinen, Baumwolle und Seide. Felix, sein Bruder, lebte in Meran mit seiner Frau und seinen zwei Kindern.
»So weit schon. Leider wird Mutter stark von ihrer Arthritis geplagt. Ich werde mich nach einer neuen Kraft umsehen müssen«, sagte er mit Bedauern in der Stimme. »Was schade ist, weil die Arbeit sie von ihren traurigen Gedanken abgelenkt hat.«
Kathi wusste, dass sein Vater, ein vor Kraft strotzender Mann, ebenfalls Schnitzer, der das Geschäft vor vielen Jahren eröffnet hatte, nie auch nur einen Tag lang krank gewesen war. Doch plötzlich verstarb er vor eineinhalb Jahren an einer unentdeckten Blutvergiftung.
»Hast du einen besonderen Wunsch oder wolltest du dich nur einmal umschauen?«
Kathi spazierte langsam durch den ersten der beiden Geschäftsräume und betrachtete die Holzfiguren, Dosen und die anderen, liebevoll hergestellten, preiswerteren Artikel aus seiner Werkstatt. Der Holzboden knarrte bei jedem Schritt, und das gedämpfte Licht außerhalb der Lichtinseln, in die die Verkaufsregale getaucht waren, trug zu der besonderen Atmosphäre bei. Kathi war überzeugt, dass diese Atmosphäre mindestens jeden zweiten Besucher zum Kauf eines Gegenstands anregte, wie das auch bei ihr der Fall war.
Im hinteren Teil des Geschäfts, getrennt durch eine halbhohe Holzwand, deren obere Hälfte aus Glas bestand, befand sich die weitläufige Werkstatt, einschließlich des Arbeitsplatzes seiner Mutter, wo sie die Figuren, Krippen und größeren Holzskulpturen bemalte. Im zweiten Verkaufsraum davor waren die herrlichen Marienfiguren und wertvolleren Krippen ausgestellt.
Suchend schaute sie sich um. »Ich hoffe, du hast deine wunderbare Madonna noch nicht verkauft? Du weißt schon, die, die deine Mutter neulich so wunderschön bemalt hat.«
Er verneinte und drehte sich herum zu einem Regal gleich hinter seinem Rücken. »Hier ist sie. Ich hatte heute Morgen einen Kunden, der war ebenso begeistert wie du, aber er konnte sich nicht entscheiden. Ehrlich gesagt war ihm der Preis zu hoch.«
Kathi nahm sie in die Hand. Die Heimatmadonna aus Lindenholz, 40 Zentimeter groß, gewandet in einen blauen Umhang und ein rotes Kleid, war wirklich unglaublich schön. Ihr Gesicht war so liebevoll. Glücklich schmiegte sich das Jesuskind an seine Mutter, deren Blick frontal auf den Betrachter gerichtet war. Kathi liebte diese Figur ganz besonders.
»Ich hab sie unserer Heimat gewidmet«, sagte Dominic. »Wie du an der Nase und den roten, runden Pausbacken siehst, sind ihre Gesichtszüge, wie auch ihr Gewand, im Vergleich zu anderen Madonnen eher bäuerlich, wie man es manchmal bei den Mariendarstellungen Tirols findet.« Beinahe zärtlich streichelte er über das Gesicht der Madonna.
Das war ihr noch gar nicht aufgefallen. »Sie vermittelt einem auf Anhieb ein vertrautes, inniges Gefühl«, antwortete sie leise. »Weißt du was, Dominic? Ich nehme sie«, entschied sie spontan. Dreimal hatte sie schon davorgestanden und sie bestaunt. Sie war natürlich nicht billig, dafür aber von Dominic von Hand geschnitzt und mit herrlichen Farben von seiner Mutter bemalt.
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