Sie nahm einen Schluck vom heißen Tee, den sie im Rucksack mitgeführt hatte, dann wandte sie sich wieder herum und machte sich auf den Heimweg.
4
Alice hatte sich irgendwann tatsächlich zu einem Spaziergang aufgerafft. Die Kopfschmerzen waren natürlich nur vorgetäuscht. Der Schmerz, den sie empfand, ging viel tiefer als ein rein körperlicher Schmerz.
Erst ein Anruf Ennios vor dem Frühstück hatte es geschafft, sie überhaupt aus dem Haus zu treiben. Vorher hätte sie am liebsten den Kopf unter die Bettdecke gesteckt und sich nicht gerührt.
Mit der Verlobung Kathis am kommenden Sonntag würde deren Heirat besiegelt, so viel stand fest. Bisher war sie immer davon ausgegangen, dass sich noch irgendwo irgendein Wunder auftun würde. Nicht, dass er Kathi verließe, sondern dass Kathi zu der Entscheidung gelangen würde, dass Ennio nicht der richtige Mann für sie wäre. Das hätte bedeutet, dass sie, Alice, nach einer längeren Zeitspanne den ehemaligen Freund ihrer Schwester heiraten durfte, ohne dass jemand daran Anstoß nahm. Doch bisher sah nichts, aber auch gar nichts danach aus. Kathi war so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Und das durfte sie, Alice, nicht zerstören. Niemals könnte sie auf dem Unglück ihrer Schwester ihr Leben aufbauen. Ihre Leidenschaft für Ennio bestand erst seit dem letzten Dezember. Sie war mit dem Auto spätabends unterwegs gewesen, um den bestellten Käse für den nächsten Tag abzuholen. Normalerweise brachte Ennio ihnen die Produkte vorbei, doch an diesem Tag streikte das Auto der Lambachers und so war sie ihm in den Keller gefolgt. Irgendwann fiel die Tür des Kellers ins Schloss und das Licht erlosch. Sofort überfiel sie ein panischer Schreck. Nur so konnte sie sich erklären, dass sie sich angsterfüllt an Ennio krallte.
»Hoppla«, murmelte er dicht an ihrem Ohr.
»Was … was ist da los?«, stotterte sie. »Mach doch bitte die … die Tür wieder auf.«
»Geht nicht«, erwiderte er, ohne sie loszulassen, was ihr in diesem Moment nur recht war.
»Wie … wieso geht das nicht?«, stotterte sie. Dunkelheit war für sie selbst als Erwachsene noch immer ein angsteinflößender Zustand. Als Kind hatte stets die Zimmertür einen Spalt offen stehen müssen. Gegen das Licht der Nachttischlampe hatte sich Kathi, die Furchtlose, die sich mit ihr das Zimmer teilte, immer vehement gewehrt. Nur der Türspalt wurde von ihr geduldet. Heute hatte jede natürlich ihr eigenes Zimmer, und so schlief sie nach wie vor jeden Abend mit brennender Nachttischlampe ein.
»Es geht nicht, weil mein Neffe und seine Schwester den Schlüssel abgezogen und von außen zugeschlossen haben, und erst einmal ihren Spaß genießen sollen«, murmelte er. Und dann küsste er sie, und zu ihrem Entsetzen gefiel ihr dieser Kuss.
»Verdammt, du riechst einfach fantastisch«, murmelte er und nagte zärtlich an ihren Ohrläppchen.
Oh Gott, wie gut erst er roch! Doch das verriet sie ihm nicht. »Wir … das … das dürfen wir nicht.«
»Nein, das dürfen wir nicht.« Dann küsste er sie erneut – und seitdem war sie ihm verfallen, anders konnte sie es nicht nennen.
Danach sahen sie sich jeden Tag. Und jeder Tag war aufregend, wundervoll, und wühlte sie dermaßen auf, wie sie es noch nie erlebt hatte.
Und dann machte er ihr den ersten Heiratsantrag. Da stand bereits sein Verlobungstermin mit Kathi fest. Und seitdem war keine Nacht vergangen, in der sie sich nicht in den Schlaf geweint hatte.
Sie schlich aus dem Haus, ohne dass ihre Mutter sie sah. Leise schloss sie die schwere Haustür und wandte sich nach links, auf den gleichen Fahrweg vor dem Haus, den zuvor auch Kathi genommen hatte. Doch dann überquerte sie nicht die rechts liegenden Wiesen, sondern ging nach links und erreichte nach fünf Minuten das kleine Wäldchen, das den Lambacher-Hof vom Brandtner-Hof trennte.
Eigentlich war dieser Wald mit den mächtigen Bergkiefern, deren starke Äste von den langen Armen der Flechten geschmückt wurden, einer ihrer Lieblingsplätze im Frühling. Dann stimmten die Vögel ihr Lied an, unerschrocken vor dem Morgen, so wie jetzt, da sie ihn bereits erahnten, obwohl noch alles im Schnee versank. Aber diesmal hatte sie kein Ohr für die lieblichen Melodien. Auch keinen Blick für das Aquamarinblau des Himmels, noch für das Glitzern feinster Eiskristalle in der Luft, das die Natur im Sonnenlicht mit Zauber erfüllte.
Den Kopf gesenkt, verschwand sie nach einer knappen Viertelstunde hinter einem mächtigen Holzstapel, von dem aus man das stolze Anwesen der Lambachers sehen konnte und wo man dennoch vor den Blicken der Bewohner geschützt war. Sie stand nicht lange da, angespannt, den Blick fest auf das schöne Bauernhaus gerichtet, in dessen Blumenkästen im Sommer die stolzen Geranien, bunten Petunien oder fragilen Fuchsien weithin leuchteten. Sie wurden dank der Pflege Sara Lambachers von Jahr zu Jahr schöner. Jetzt waren die leeren Kästen noch mit den üppigen, grünen Zweigen der Bergkiefer und mit Wurzelwerk bedeckt, umrahmt von den roten Tupfen der Holzäpfel, die Sara auf den Holzbrettern ausgebreitet hatte, was wie die Farben im Sommer die Schönheit des Bauernhauses unterstrich.
Als Ennos kräftige Gestalt sich dem Holzstoß näherte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Kaum, dass er sie erreicht hatte, riss er sie an sich und küsste sie leidenschaftlich.
»Ich muss mit dir reden. Komm mit«, befahl Ennio mit leiser Stimme.
Sie nickte nur, unfähig, ihm eine Antwort zu geben. Sie wusste ja, was kommen würde.
Er merkte, wie sie zitterte, zog seine graue Strickjacke mit dem typischen Zopfmuster, wie sie die Menschen auf der Seiser Alm gern trugen, aus, und legte sie über ihre Schultern.
»Alice, du weißt, worüber wir reden müssen.«
Sie nickte erneut wortlos.
Er packte mit festem Griff ihre Hand und zog sie weiter in den Wald hinein, jenseits des schmalen Weges, wo sie von niemandem gesehen werden konnten, selbst wenn jemand den Pfad benutzen würde. Dann erreichten sie eine kleine Holzhütte.
Alice kannte diese Hütte, bei der es sich eigentlich nur um einen Holzverschlag handelte, in dem alte Gerätschaften aufbewahrt wurden, für ein geplantes Museum beiseitegelegt, da sie zu schade zum Entsorgen waren.
Er schloss sie auf. Sie betraten sie und er verschloss sofort wieder die starke Holztür. Der Raum war dämmrig, denn es gab keine Fenster, und nur durch einen Spalt zwischen Dach und Seitenwand fiel ein schmaler Lichtstreifen.
Sie sanken auf den Schlafsack über der Wolldecke und lehnten die Köpfe gegen die beiden prall gefüllten Kissen an der Schmalseite des Schuppens – ein provisorisches Lager, das er irgendwann einmal hier errichtet hatte.
Immer hatte Alice das Gefühl, zurück in die heimlichen Rendezvous mit Verehrern ihrer Teenagerzeit zu fallen, wenn sie sich hier trafen, und dennoch genoss sie jede Sekunde, die sie in der Hütte verbrachten.
»Alice, es gibt drei Dinge, die eine Tatsache sind: Erstens, ich liebe dich. Und diese Liebe ist größer, als sie zu Kathi je war, und größer, als sie mit Kathi jemals sein kann. Nichts ist zu vergleichen mit dem, was wir zwei gerade fühlen. Das bedeutet, ich kann mich keinesfalls mit Kathi am kommenden Sonntag verloben. Das führt drittens dazu, dass wir zwei heiraten.«
»Und du weißt genau, dass das nicht möglich ist«, entgegnete sie leise. Dies war bereits der dritte Heiratsantrag, doch was nützte er? Nichts.
Er riss sie heftig an sich. Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals, als er ihren Kopf mit seinen warmen Händen ergriff und sie küsste.
Ein letzter Kuss, dachte sie flüchtig. Dann zerstreute sich dieser Gedanke. Doch als Ennio – nicht zum ersten Mal – versuchte, ihr den Pullover hochzuschieben, nahm sie seine Hände und stieß ihn zur Seite.
»Nein, Ennio. Du weißt, dass ich das nicht kann. Nicht unter diesen Umständen«, beharrte sie, selbst als sie den Ärger in seinen Augen erkennen konnte. Sie war schon dabei, ihre Schwester zu betrügen, doch bis zum Letzten …, nein, das ging nicht. Ein Rest von Anstand hielt sie zurück, sich ihm völlig hinzugeben – wonach ihr Körper unmissverständlich rief.
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