Er verschränkte die Arme. Seine Stimme klang längst nicht so warm wie normalerweise, wenn sie zusammen waren. Im Gegenteil, jetzt war mehr als nur eine Spur von Kälte herauszuhören. »Alice, ich kenne Kathi so gut wie du, und sie ist, wie wir beide auch, davon überzeugt, dass man niemals jemanden heiraten soll, wenn man in Gedanken einen anderen liebt. Also, noch einmal: Möchtest du mich heiraten? Egal, was die anderen sagen? Möchtest du mit mir dein Leben verbringen, bis ans Ende aller Tage?«
Der Blick seiner braunen Augen, die unter den zusammengewachsenen Brauen so finster schauen konnten, aber auch so leidenschaftlich und liebevoll, war beschwörend auf sie gerichtet.
»Natürlich möchte ich das.«
Seine Augen begannen zu leuchten und ihr finsterer Ausdruck verschwand so rasch, wie er sein Gesicht verdunkelt hatte.
»Aber Ennio, in deinem Innern weißt du doch, dass das schlichtweg unmöglich ist. Allein der Gedanke, dass wir Kathi heute sagen müssten, dass sie die Verlobung vergessen kann … Wir, also sie und ich, wir leben zusammen, wir arbeiten zusammen – wie stellst du dir das vor? Sie würde mich bis ans Lebensende hassen. Meine Eltern würden dich ablehnen. Ich hätte keine Arbeit mehr, denn die Schwaige gehört uns beiden gemeinsam. Sie könnte darauf bestehen, und ich bin mir sicher, dass sie es täte, denn ich weiß, wozu sie in ihrer Wut fähig ist«, fügte sie düster hinzu, »dass ich ihr ihren Anteil ausbezahle, wozu ich natürlich nicht in der Lage wäre …«
»Das Geld ist doch kein Problem. Ich würde es dir natürlich geben«, unterbrach er sie. »Und dann könnten wir beide die Schwaige führen. Und du würdest zu uns auf den Lambacher-Hof ziehen und …«
»… und ganz sicher auch noch die Freundschaft zwischen unseren Eltern zerstören.« Ihre Stimme schwankte, als sie fortfuhr: »Nein, Ennio, es … es geht einfach nicht, so gern ich es auch möchte.« Nach diesen Worten brach sie in Tränen aus.
Ennio küsste sie auf die Wange, aber ihm schienen die Worte ausgegangen zu sein, ebenso wie ihr.
Sie schluckte und wischte sich mit dem Taschentuch, das er ihr reichte, über die Augen.
»Bitte, entscheide dich für mich, und dann verlassen wir die Alm sofort«, flehte er. »Nach einer gewissen Zeit wäre alles zwischen unseren Familien wieder eingerenkt. Ich habe eine Stelle als Koch im ›Edelweiß‹ in Brixen in Aussicht, und für dich würden wir auch etwas finden. Bei einem Freund könnten wir beide fürs Erste unterkommen.«
Er machte eine kleine Pause. Dann räusperte er sich und fuhr fort: »Wenn du allerdings meinen Heiratsantrag endgültig ausschlägst, dann werde ich noch heute von der Seiser Alm weggehen.«
Sie nahm voller Trauer den letzten Funken Hoffnung in seiner Stimme wahr, aber es gab keinen Ausweg. »Nein, tut mir leid. Das alles ist unmöglich. Nichts als Träume. Das Band zwischen unseren Familien wäre für immer zerstört. Und selbst wenn ich Kathi wieder unter die Augen treten könnte, so würde sie mir nie verzeihen. Heirate Kathi, wie ihr es vorhattet. Dann machst du wenigstens sie nicht unglücklich.«
Er ließ sie los. »Dann ist das also dein letztes Wort?«
»Ja. Definitiv. Versprich mir, es dir noch einmal zu überlegen – also Kathi zu heiraten.«
»Ich werde es mir überlegen. Sollte ich mich tatsächlich für sie entscheiden, erwarte ich von dir, dass unser Verhältnis ein Geheimnis bleiben wird.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf. Diesmal half er ihr nicht beim Aufstehen, sondern ging sofort zur Tür und öffnete sie.
Wortlos ging sie an ihm vorbei, zum ersten Mal wütend auf ihn. Was glaubte er denn? Sie würde doch niemals jemandem, oder jedenfalls nicht Kathi, von ihrer Liebe zu ihm etwas sagen. Dann könnte sie ihn ja gleich heiraten. Also wirklich!
Er verschloss die Tür. Die Jacke überließ er ihr, als er den Wald mit großen Schritten in Richtung seines Hofes verließ.
Alice rannte davon.
Sie wusste, sie hatte ihn für immer verloren.
5
Sie zog die Jacke von den Schultern, denn jetzt fröstelte sie nicht mehr, sondern sie hatte einen Schweißausbruch. Aufgewühlt begab sie sich weinend auf den Heimweg. Bevor sie ins Haus trat, schlich sie in die Scheune und versteckte die Jacke im hintersten Winkel eines Holzregals. Unbemerkt von ihrer Mutter oder gar Kathi, erreichte sie schließlich ihr Zimmer.
Es dauerte keine fünf Minuten, da fiel ihr ein, dass sie ja ihrer Freundin Linni versprochen hatte, sie morgen ins Krankenhaus zu bringen, um sie zu einer Brustkrebsuntersuchung zu begleiten. Die Voruntersuchung hatte kein eindeutiges Ergebnis gezeigt, und nun stand ihr eine MRT-Aufnahme bevor. Danach würde sie noch ein paar Tage bei Linni in Meran bleiben. Bis zu Kathis Verlobung musste sie allerdings zurück sein, wenn es denn dazu kommen sollte. Sie hätte nicht sagen können, ob sie diese herbeisehnte oder befürchtete.
In Windeseile packte sie eine Reisetasche, dann ging sie in das Zimmer ihrer Mutter.
Theresa saß an ihrem kleinen Tischchen unter dem Fenster und tippte in ihren Computer.
»Mama, darf ich dich einen Moment stören?«
Theresa schaute lächelnd von ihrem PC hoch, an dem sie mit Online-Banking beschäftigt war. Dies war keine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, vor allem, da Kathi ihr erst vor Kurzem gezeigt hatte, wie es funktionierte. »Aber sicher, Schatz. Was gibt’s?«
»Ich hab dir doch von Linnis Anruf erzählt, in dem sie mich gebeten hat, sie für ein paar Tage zu besuchen«, brachte Alice mit halbwegs normaler Stimme hervor. »Gestern hat sie wieder angerufen.«
»Ach, wie nett. Wie geht es ihr denn?«
»Ganz gut, aber ihr steht eine Untersuchung im Krankenhaus bevor, vor der sie sich fürchtet, und ich möchte sie begleiten. Ihr Mann befindet sich auf einer Lesereise und wir haben uns lange nicht gesehen. Sie hat ein paar Tage Urlaub genommen, damit wir gemeinsam etwas unternehmen können.« Tommaso, Linnis Mann, hatte nach erfolgreicher Arbeit als Brückenbauer in aller Welt seinen Job an den Nagel gehängt und genauso erfolgreich begonnen, Krimis zu schreiben. Nicht nur der erste, sondern auch die beiden folgenden waren Bestseller. Mit dem letzten war er nun auf Lesereise gegangen.
»Eigentlich wäre es ja besser, sie käme herauf zu uns.«
»Nein, nein, lass nur. Ich bin ganz froh, mal wieder in Meran zu sein. Dort können wir genauso schöne Spaziergänge machen.«
»Stimmt«, nickte Theresa. »Aber zur Verlobung bist du doch wieder hier?«
»Natürlich.« Seltsam. Die Welt lag zerbrochen zu ihren Füßen, aber die Stimme gehorchte immer noch.
Sie umarmte ihre Mutter herzlich. »Ich muss mich beeilen, dann bekomme ich noch den Bus. Pass auf dich auf, Mama.«
»Dann mach’s gut, mein Schatz. Und grüß mir Linni.«
Alice rannte beinahe zur Straße. Keine Minute vom Hof entfernt fuhr der Bus zum Compatsch, den sie unbedingt noch erreichen wollte.
Nachdem sie eingestiegen war, hatte sie allerdings Mühe, die Tränen zu unterdrücken.
Die 15 Jahre ältere Linni und sie hatten sich im Krankenhaus kennengelernt, als beiden der Blinddarm entfernt worden war. Sie hatten sich während ihres Aufenthalts in der Klinik ihr Leben erzählt, und diese Freundschaft hatte die Tage im Krankenhaus überdauert und bestand noch immer. Linni gehörte zu ihren besten Freundinnen.
Die Seilbahn brachte sie nach Seis, wo Linni mit dem Auto bereits auf sie wartete. Sie begrüßten sich herzlich. »Aber was ist los mit dir?«, fragte Linni und blickte sie neugierig an. »Du siehst ehrlich gesagt schrecklich aus.«
Alice war nicht böse über Linnis Bemerkung. Linni war eine ihrer ältesten Freundinnen und es würde ihr guttun, mit ihr über ihre schrecklich-schöne Liebe zu reden. Natürlich hatte Alice bereits gleich zu Beginn mit ihr über diese unmögliche Liebe gesprochen. Ohne die Freundin wäre sie an ihrem Liebeskummer erstickt.
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