Alice strich sich über die weichen Locken. »Na, warum wohl? Selbstverständlich wegen Ennio. Und die Verlobung mit Kathi steht an … und … na, du weißt schon. Ich habe Liebeskummer – wie wahrscheinlich die Hälfte der weiblichen Bevölkerung dieser Erde.«
»Willkommen im Club«, entgegnete Linni trocken.
Alice musste fast lachen. Gab es etwas Schöneres, als eine enge Freundin, mit der man alles bereden konnte?
Sie hatte bis zu ihrer Affäre mit Ennio immer jemanden zum Reden gehabt. Als Kind waren da ihre Eltern, vor allem ihre Mutter, die immer ein offenes Ohr für ihre Wehwehchen, Sorgen und Nöte gehabt hatten. Gleich danach kam ihre Großmutter mütterlicherseits. Und natürlich gab es immer Kathi. Ihr Verhältnis war im Vergleich zu manch anderen Schwestern sehr gut. Bis jetzt, da sie begonnen hatte, diese innige Beziehung aufs Spiel zu setzen.
Willkommen im Club? Erschrocken betrachtete Alice das liebevolle, attraktive Gesicht ihrer Freundin, als ihr endlich aufging, was Linni da vorgebracht hatte. »Bitte, sag nicht, dass es Probleme mit deinem Tommaso gibt.«
»Mit Tommaso nicht, aber mit seiner blöden Agentin. Also, der neuen. Die alte hat aufgehört, nachdem sie Zwillinge zur Welt gebracht hat. Aber die neue ist hinter ihm her wie der Teufel. Wenn ich nicht aufpasse … die kennt kein Pardon vor einer Ehe, glaub mir. Die Lesereise von Tommaso ist für sie ein gefundenes Fressen.«
Alice wusste um die Eifersucht, die an ihrer Freundin sehr rasch nagte. Und sie kannte natürlich auch Tommaso, der ein Frauentyp erster Güte war. »Und da lässt du Tommaso mit ihr auf Lesereise gehen?«
Linni zuckte die Achseln. »Das erste Gebot unserer Ehe heißt Vertrauen. Ich hab ja Vertrauen in ihn. Aber ich kenn auch die Frauen. Und zu denen hab ich nicht immer Vertrauen. Weißt ja selbst, wie die sind.« Sie fuhr sich erschrocken mit der Hand an den Mund. »Oh, entschuldige, damit warst natürlich nicht du gemeint.«
Alice ersparte sich eine Antwort. Irgendwo hatte ihre Freundin ja recht.
Sie erreichten das schöne alte Haus in Meran unweit der Passer und stiegen aus. »Ach, du bewohnst ein wunderbares Haus. Und verstehst dich gut mit deiner Familie, hast sogar eine neue Schwester toleriert, was sicher nicht einfach war. Wenn man mit 39 Jahren aus heiterem Himmel erfährt, dass die ebenfalls ahnungslose Schwester eine Zwillingsschwester hat, und diese dann auch noch zu einem ins Haus zieht – nicht einfach. Aber ich glaube, du hast es überstanden, gell?« Sie erinnerte sich, als Linni ihr von ihrer Eifersucht erzählte, die sie schier überwältigt hatte, nachdem sie und ihre Schwester Ella plötzlich erfuhren, dass ihre Eltern die Zwillingsschwester Ellas, Noemi, verschwiegen hatten, wie auch die Tatsache, dass Ellas leibliche Mutter noch lebte. Dass sie damit, sowie mit ihrer Eifersucht auf die neue Schwester, fertiggeworden war, hatte sie nur Tommaso zu verdanken. Ohne ihre rasche Heirat wäre das Zusammenleben schwierig gewesen, denn die Zwillingsschwestern Ella und Noemi hatten von Anfang an eine starke Zuneigung verspürt. Zum Glück kehrte zur gleichen Zeit Tommaso von seinem Auslandsaufenthalt zurück. Sie verliebten sich ineinander und Linni zog zu ihm ins Nachbarhaus.
Sie nahmen Alices Tasche und stiegen an der äußeren, überdachten Treppe des Hauses hinauf zu Tommasos und Linnis Wohnung. Unter dem Dach hatte Linni ihr Reich für sich. Es war ein großzügiger Raum, in dem eine bequeme Schlafcouch stand. Daneben gab es einen runden Glastisch mit einer modernen Leselampe. Unter der einen Schräge war über die gesamte Breite ein Schrank eingebaut, und der gegenüberliegende, voll verglaste Giebel schenkte dem Raum dank der Holzvertäfelung ein schimmerndes Licht.
»Dein Zimmer ist immer noch so schön, da möchte man als Gast nie wieder ausziehen«, lächelte Alice.
»Wehe, du verrätst das Tommaso.«
Da musste Alice wirklich lachen – zum ersten Mal an diesem Tag. »Ach, du Dummerchen. Der Mann liebt dich doch, das sieht jeder Blinde.«
»Bis zum Ende unserer Tage, toi, toi, toi«, nickte Linni.
Lachend liefen sie die Treppe hinunter in die moderne Küche mit den bequemen Stühlen aus gebogenem Birkenholz und dem riesigen Tisch. »Den hat Tommaso entworfen«, informierte Linni sie.
»Hm, toll. Er hat sogar vier Beine. Dazu diese … äh … große Tischplatte, ich bin wirklich begeistert«, grinste Alice angesichts des Tisches, der sich in ihren Augen in nichts von seinen abertausend Brüdern und Schwestern unterschied.
»Mach dich bloß nicht über meinen Designer lustig, das hab ich bereits hinter mir und hab es nur knapp überlebt. Es ist nicht zu fassen, aber dieser Mann hat sich tatsächlich zwei Jahre lang einen Kopf gemacht, wie man wohl einen besonderen Esstisch herstellen könnte. Schließlich führte dann sein Brainstorming aber doch zu einer Tischplatte und vier Beinen. Allerdings aus Birke«, schmunzelte Linni.
Alice mochte Tommaso, den attraktiven Krimi-Autor, doch bei Mädelsgesprächen war er, wie Männer generell, überflüssig. Sie hatte ihn erst vor zwei Jahren kennengelernt, wusste aber von Linni, dass diese immer schon in ihn verliebt gewesen war. Er war zweifellos sehr attraktiv. Sein lockiges, schwarzes Haar, das noch kaum von silbernen Fäden durchzogen war und die hellblauen Augen noch mehr betonte, seine schlanke, jedoch muskulöse Figur mit den breiten Schultern und seine schönen, schmalen Hände hatten noch jedes Meraner Dirndl hingerissen von ihm träumen lassen, wie sie von Linni erfahren hatte. Deren Hochzeit vor zwei Jahren war ein Traum gewesen.
Ach, sann Alice sehnsüchtig, wenn sie das doch auch einmal von ihrer Hochzeit sagen könnte. Momentan war ein solches Fest für sie so weit entfernt wie eine Reise zum Mond. Nein, so weit wie eine Reise zum Mars.
6
Als Kathi mittags zum Hof zurückkehrte, fiel ihr ein, dass sie Ennio ja gar nicht besuchen konnte, sondern bis zum Abend warten musste, wenn er zurück war von seiner Fahrt zur Genossenschaft in Bozen. Das konnte aber spät werden, hatte er sie vorgewarnt. Schade, dass er gerade vor ihrer Verlobung so selten Zeit für sie hatte.
Sie würde die Zeit nutzen und hinunter nach Kastelruth fahren, um sich mit Büchern einzudecken. Außerdem könnte sie Dominic einmal wieder einen Besuch abstatten. Dominic Waldner war Schnitzer und mittlerweile waren sie und seine Familie befreundet. Eine herrlich bemalte Madonna stach ihr seit Langem ins Auge, sie bummelte regelmäßig durch sein Geschäft und unterhielt sich gern mit ihm. Er schnitzte in der hinteren Werkstatt vor aller Augen seine Figuren und bewies damit, dass sie nicht aus dem fernen China kamen. Sie wusste, dass seine Mutter diese Figuren im Anschluss bemalte, und bewunderte deren Fähigkeit, stets die passenden Farben auszuwählen, nicht zu grell, nicht zu pastellig, sondern genau richtig.
Normalerweise nutzte Kathi tagsüber das Fahrrad, sauste mit ihm die Bergkurven hinab, um dann auf dem Rückweg mit Fahrrad in die Gondel zu steigen und gemütlich hinaufzufahren. Doch heute war die Straße womöglich glatt, sodass sie das Rad stehen ließ. Obwohl sie auf Skiern das Gleichgewicht gut halten konnte, fuhr sie nicht gern auf glatten Straßen mit dem Fahrrad. Vor ein paar Jahren hatte ihr ein übler Sturz drei herausgeschlagene Zähne beschert. Der Fußweg von der Seilbahnstation in Seis nach Kastelruth betrug eine knappe Dreiviertelstunde, perfekt für einen sonnigen Tag wie heute.
Sie bummelte zum Compatsch und stieg dann in die Seilbahn, die sie nach zwanzig Minuten hinunter nach Seis brachte. Die herrliche, windstille Luft, erfüllt vom Ahnen des bevorstehenden Frühlings, und die Wärme, die sie dank ihrer zügigen Schritte durchflutete, ließen sie die Jacke öffnen. Nach einer knappen Dreiviertelstunde erreichte sie die stimmungsvolle Altstadt von Kastelruth, wo sich auf der hübschen Piazza Kraus das »Holzkastl« von Dominic Waldner in einem ausladenden, perfekt restaurierten Bürgerhaus aus dem 17. Jahrhundert befand. Darüber lagen die Wohnungen der Familie. Der Eingang mit der alten, schweren Holztür stach sofort ins Auge, ebenso die tiefen, mit Granit umrandeten Fenster. Ein perfektes Haus für die wertvollen Schnitzereien von Dominic, ebenso wie für seine Mutter, dachte sie wie so oft.
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