Werden wir Mauern bauen oder niederreißen?
// RITA GARSTENAUER
Mauern zu bauen liegt im Trend. Wie jüngst ein Forscherteam der Universität Princeton erhoben hat, wurden seit 1800 weltweit 62 Maueranlagen zur Grenzsicherung errichtet. 28 davon, also beinahe die Hälfte, entstand erst seit dem Jahr 2000. Was steht dahinter?
Im Normalfall ist eine Grenze intakt, wenn die Transfers von Menschen und Gütern über sie hinweg für die Staaten beiderseits akzeptabel sind – also erwünschte Waren und entweder legal oder toleriert einreisende Menschen. Zwischen den beiden Staaten sollte Übereinstimmung herrschen, dass sie genügend Aufwand betreiben, damit dies auch so bleibt. Im Fall der meisten Grenzen ist dies mit der Markierung der Grenze, Kontrollen der Grenzübergänge an Verkehrswegen und gelegentlichen Patrouillen getan. Eine Mauer wird dann gebaut, wenn zwischen den Nachbarstaaten dieses Einvernehmen über die Aufrechterhaltung der Grenze gestört ist.
Dies ist so im Fall eines territorialen Konfliktes, wenn einer der Staaten Land jenseits der aktuellen Grenze als seines beansprucht. Häufiger standen aber ökonomische Gründe hinter der Errichtung von Grenzmauern – soweit der aktuelle Stand der Forschung. Wenn Nachbarstaaten wirtschaftlich ungleich stark sind und das Wohlstandsgefälle zwischen ihnen wächst, dann erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass Mauern errichtet werden – viel eher als etwa militärische Konflikte, Flüchtlingsbewegungen oder ein Bürgerkrieg im Nachbarland. Für diese Einsicht wurden jüngst Daten zu Mauern oder ähnlichen Sperranlagen zwischen Staaten weltweit für den Zeitraum von 1950 bis 2011 verrechnet. Zusätzliche Daten und ergänzende Forschung werden uns in Zukunft genauer Auskunft geben. Was also Staaten fürchteten, die seit den 1950er Jahren Mauern erbauten, waren in den allermeisten Fällen Schmuggelwaren und undokumentierte Arbeitskräfte.
Mauern haben einen hohen symbolischen Wert. Für die, die sie erbauen, versprechen sie Schutz. Der Aufwand solcher Maßnahmen vermittelt zusätzlich, dass es auch eine entsprechende Bedrohung geben müsse, die ihn rechtfertigt. Eine Mauer, die eine Grenze schützen soll, ist nicht nur ein Bauwerk. Um effektiv zu sein, bedarf es auch des Wachpersonals. Darüber hinaus wird zunehmend Fernerkundungs- und Überwachungstechnologie in die Grenzanlagen integriert. Als hochtechnologische Infrastrukturprojekte geben Grenzmauerbauten damit auch positive wirtschaftliche Impulse. Eine einschlägige Industrie für Überwachungstechnik macht zurzeit gute Geschäfte.
Leider ziehen Grenzmauern aber nicht nur einen positiven ökonomischen Effekt nach sich. Keine Grenze lässt sich lückenlos kontrollieren. Es gibt immer ein gewisses Maß an illegalen Grenzübertritten und Warentransfers. Wenn es schwierig wird, eine Grenze unbemerkt zu überqueren, so entsteht ein lukrativer Markt für diese illegalen Dienstleistungen. Im Extrem lässt sich dies seit einigen Jahren in Nordafrika beobachten. Seit dem Syrienkrieg und der militärischen Aktivitäten des IS im Irak gibt es starke Flüchtlingsbewegungen nach Nordafrika darüber hinaus weiter nach Europa. Aber auch aus Somalia, Eritrea, dem Sudan und dem Südsudan suchen sich derzeit Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen. Dazu kommen Migrantinnen und Migranten aus westafrikanischen Regionen südlich der Sahara, die sich häufig aufgrund ihrer schlechten wirtschaftlich Lage zur Migration entschlossen haben, aber auf legalem Wege keine Chance haben, in die Zielländer in Europa oder Amerika zu gelangen.
Durch die große Nachfrage ist das Schlepperwesen (und zunehmend auch der Menschenhandel) zum lukrativsten Zweig des organisierten Verbrechens in der Region geworden. Ein extremes Beispiel bietet der Menschenschmuggel auf der Sinaihalbinsel, einer Route über Jordanien und Israel nach Ägypten, die durch eine Hightech-Zaunanlage auf der israelischen Seite abgeriegelt ist. Die Global Initiative Against Transnational Organized Crime schätzt, dass mafiöse Gruppen am Sinai im Zeitraum zwischen 2009 und 2013 einen Gegenwert von 600 Millionen US-Dollar aus der Ausbeutung von Migrantinnen und Migranten lukrieren konnten. Die Forschung hierzu steht noch am Beginn; dass die Abschottung der Grenzen zu Europa hin eine negative Rückkoppelung erzeugt, ist aber inzwischen klar. Ein ähnliches Bild zeigen die Erfahrungen an der sogenannten „Tortilla Wall“, der Grenzzaunanlage zwischen den USA und Mexiko, mit deren Errichtung schon 2005 begonnen wurde.
Werden wir nun Mauern bauen oder Mauern niederreißen? Das Bauen wird wohl noch eine Weile andauern. Aber Mauern können Migration nicht verhindern. Sie machen die Migrierenden ärmer und kriminelle Organisationen reicher. Um aus diesem Kreislauf wieder herauszukommen, müssten Schritte gegen die Ursachen von Flucht und armutsbedingter Migration gesetzt werden. Zugleich wird es notwendig sein, die Möglichkeiten für eine reguläre Arbeitsmigration auszuweiten. Wenn wir es denn nicht schaffen sollten, die Mauern niederzureißen – vielleicht gelingt es so zumindest, die Tore größer zu machen.
Werden wir den Hunger besiegen können?
// ERNST LANGTHALER
Diese Frage stellte sich bereits der britische Bevölkerungswissenschaftler Robert Thomas Malthus vor 200 Jahren. Seine Antwort lautete: Nein, denn die Bevölkerung und damit die Nachfrage nach Nahrungsmitteln würden schneller als das Nahrungsangebot wachsen. Hunger- und andere Katastrophen schienen ihm unvermeidlich, wenn es nicht gelänge, das Bevölkerungswachstum zu begrenzen. Heute sehen wir, dass er unrecht hatte: Die Weltbevölkerung wuchs in den letzten 200 Jahren um das Sechs- bis Siebenfache, die weltweit verfügbare Nahrungsmenge hingegen etwa um das Zehnfache. Dies gelang einerseits durch die weltweite Ausweitung der Nutzflächen, andererseits durch die ergiebigere Nutzung des Bodens mittels neuer Technologien auf fossilenergetischer Basis. Unbestritten gab es auch im 19. und 20. Jahrhundert Hungerkatastrophen – aber nicht aus den von Malthus genannten Gründen.
Und wie weiter angesichts von prognostizierten acht bis zehn Milliarden Menschen im Jahr 2050? Müssen wir heute wie Malthus und seine Anhänger besorgt in eine hungrige Zukunft blicken – oder können wir künftig auf eine ähnliche Steigerung der Pro-Kopf-Erzeugung hoffen wie in der Vergangenheit? Die Frage ist falsch gestellt, denn der Sieg über den Hunger hängt nicht allein von der verfügbaren Nahrungsmenge ab. Wir müssen die gesamte Nahrungskette – vom Acker bis zum Teller (eigentlich bis zum Abfall) – in den Blick nehmen, um zu schlüssigen Antworten zu gelangen.
Im Bereich der Produktion geht es, je nach Region, um die nachhaltige Stabilisierung oder Steigerung der Erträge von Pflanzenbau und Tierhaltung. Um deren Grundlagen nicht zu zerstören, sondern dauerhaft zu erhalten, sind sozial- und umweltverträgliche Formen der Landbewirtschaftung nötig. Neben dem Biolandbau muss auch der konventionelle Landbau „ergrünen“, das heißt technologische Eingriffe (Kunstdünger, Pestizide, Gentechnik usw.) minimieren und das biologische Zusammenwirken von Pflanzen- und Tierarten maximieren. Anstatt die Anbauflächen auszuweiten, muss das bestehende Agrarland energieeffizienter genutzt werden – auch zur Eindämmung des Klimawandels. Im Bereich der Distribution geht es um die gerechte Verteilung der verfügbaren Nahrungsmenge. Hunger ist insgesamt kein Mengen-, sondern ein Zugangsproblem. Je ärmer und schwächer Menschen sind, umso eher sind sie dem Risiko des Hungers ausgesetzt. Folglich gilt es, eine gerechtere Wohlstands- und Machtverteilung anzustreben – im Großen wie im Kleinen. Übermäßige Konzentration von Marktmacht und überlange Transportwege sind zu vermeiden. Ungleiche Zugänge nach Klasse, Geschlecht, Ethnie, Alter oder anderen Unterschieden sind abzubauen. Im Bereich des Konsums geht es um die Begrenzung des Fleischverbrauchs in den Schwellenländern und dessen Senkung in den Industrieländern, während den Entwicklungsländern eine Anhebung zugestanden werden muss. Eine bestimmte Kalorienmenge an tierischer Kost erfordert ein Vielfaches der Anbaufläche für dieselbe Kalorienmenge an pflanzlicher Kost. Das heißt nicht, dass wir uns alle vegetarisch oder gar vegan ernähren müssen. Vielmehr ist ein gemäßigter Fleischkonsum – vor allem von Hühnern als effizienten Futterverwertern – unter dem derzeitigen Weltdurchschnitt von 43 Kilogramm (einschließlich Knochen) pro Kopf und Jahr anzustreben. Zudem müssen Nahrungsmittelverluste und -abfälle, die ein Drittel bis die Hälfte der Erzeugung ausmachen, eingedämmt werden.
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