Am Ende eines langen Lebens stellt man im Allgemeinen fest, dass zwei Dinge gesagt wurden: Dinge, die zu schön sind, um wahr zu sein, und Dinge, die zu schlimm sind, um wahr zu sein. Übertrieben wird im Hinblick auf die Anerkennung, was dem Umstand geschuldet ist, dass die Laien den Priester als das sehen, was er ja tatsächlich sein soll: »Ein zweiter Christus«.
Der Herr erwählt nicht die Besten. Ich wurde nicht berufen, weil Gott in seiner göttlichen Weisheit sah, dass ich besser sein würde als andere Männer. Sogar die Liebe Gottes ist blind . Tatsächlich kenne ich Tausende Männer, die es viel mehr als ich verdient hätten, Priester zu sein. Häufig wählt er die schwachen Werkzeuge, damit seine Macht offenbar werden kann. Sonst würde es so scheinen, als würde das Gute durch den Ton geschehen und nicht durch den Geist. Der Herr ritt auf einem Esel nach Jerusalem. Er kann durch New York und London und durch den Mittelgang einer Kathedrale in einer menschlichen Natur kommen, die nicht viel besser ist. Der Herr schätzt jene nicht hoch ein, die in den Beliebtheitsumfragen obenan stehen: »Wehe, wenn euch alle Menschen loben.«
Das scheint das Evangelium in ein abstoßendes Licht zu rücken, doch was unser Herr tatsächlich meinte, war: Wir könnten anfangen zu glauben, was in der Zeitung steht, und uns von dem hinreißen lassen, was die Welt über uns denkt. Je mehr wir uns allerdings die populären Einschätzungen zu eigen machen, desto weniger Zeit verbringen wir auf den Knien mit der Gewissenserforschung. Die äußere Welt füllt sich mit so viel Aufmerksamkeit und Rampenlicht, dass sie uns das innere Licht vergessen lässt. Lob lässt in uns häufig den falschen Eindruck entstehen, dass wir es verdienen würden. Unsere Reaktion darauf verändert sich im Laufe der Jahre: Zu Beginn ist man verlegen und verwirrt; dann finden wir es toll, während wir gleichzeitig behaupten, es würde von uns abperlen wie Wasser vom Rücken einer Ente – aber die Ente liebt Wasser! Im letzten Stadium schließlich neigt man zu Zynismus: Man fragt sich, was derjenige, der einen da lobt, eigentlich will.
Und dann gibt es noch mein Leben, wie Gott es sieht. Hier fällt das Urteil vollkommen anders aus. Der Mensch liest im Gesicht, Gott hingegen liest im Herzen. David wurde nicht wegen seines guten Aussehens auserwählt, Elias wurde nicht wegen seines Aussehens zurückgewiesen. Unser Herr hat eine zweifache Sichtweise auf uns: einerseits, wie er uns geplant hatte; andererseits, wie wir seiner Gnade entsprochen haben. Gott ist ein großes Risiko eingegangen, als er uns den freien Willen gab – ebenso wie Eltern, die ihen Kindern Freiheit zugestehen. Der Prophet Jeremia erzählt eine sehr schöne Geschichte über den Unterschied zwischen dem Ideal, das Gott für jeden von uns hat, und der Art, wie wir uns selbst entwickeln. Gott schreibt die letzte Grabinschrift – nicht auf ein Denkmal, sondern auf die Herzen. Ich weiß nur, dass diejenigen, die von Gott mehr Talente empfangen haben, von Gott strenger beurteilt werden. Wenn ein Mensch viel empfangen hat, wird viel von ihm erwartet, und je mehr einem Menschen anvertraut wurde, desto mehr kann von ihm als Erstattung verlangt werden. Gott hat mir nicht nur eine Berufung gegeben, sondern er hat mich mit Chancen und Gaben ausgestattet, was bedeutet, dass er am Jüngsten Tag viel Ertrag erwarten wird.
Ich weiß nicht, wie Gott urteilen wird, aber ich vertraue darauf, dass er mich mit Barmherzigkeit und Erbarmen betrachten wird. Ich weiß jedoch, dass es im Himmel drei Überraschungen geben wird. Erstens werde ich einigen Menschen begegnen, die ich dort nie erwartet hätte. Zweitens wird es einige geben, die ich erwartet hätte, die aber nicht da sein werden. Und trotz meinem Vertrauen auf seine Barmherzigkeit dürfte die größte Überraschung von allen diejenige sein, dass ich dort sein werde.
4Dies ist der Titel des englischen Buches. Im Deutschen wurde der Titel Unerschütterlich im Glauben gewählt. Dieser Titel bezieht sich auf das Leben von Fulton Sheen (Anm. d. V.).
5William Shakespeare, Maß für Maß , 2. Akt, 2. Szene (Anm. d. V.).
6Ebd.
2. Das Modellieren des Tons
Ton muss modelliert werden, und das geschieht vor allem in der Familie, die heiliger ist als der Staat. Das bestimmende Modell meiner frühen Kindheit war die Entscheidung meiner Eltern, dass all ihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten sollten. Dieser Entschluss rührte nicht daher, dass sie selbst gut ausgebildet waren, sondern das Gegenteil war der Fall. Mein Vater kam nie über die dritte Klasse hinaus, weil sein Vater ihn auf der Farm brauchte. Meine Mutter ging nur acht Jahre lang zur Schule – zu einer Zeit, als es für sämtliche Klassen nur einen Lehrer gab.
Beide Großeltern mütterlicherseits stammten aus Croghan, einem kleinen Dorf in der Grafschaft Roscommon in Irland in der Nähe der Stadt Boyle. Der Vater meines Vaters (den ich nicht kennenlernte, da er starb, als ich noch ganz klein war) war ebenfalls in Irland geboren. Die Mutter meines Vaters stammte jedoch aus Indiana. Leider starb auch sie, bevor ich alt genug war, um sie kennenzulernen.
Mein Vater, Newton Sheen, und meine Mutter, Delia Fulton, besaßen ein Eisenwarengeschäft in El Paso, Illinois, rund 45 Kilometer von Peoria entfernt. Eines Tages schickte mein Vater den Laufburschen des Ladens in den Keller, um Waren hochzuholen. Der Junge – der später als Bankangestellter in der Stadt arbeitete – sah, als er die Treppen heraufkam, dass sein Vater durch die Eingangstür hereinkam. Der Junge rauchte eine Zigarette, was für einen Jungen seines Alters damals buchstäblich einem Anathema 7gleichkam. Aus Angst vor seinem Vater warf er die Zigarette unter die Stufen. Sie fiel in ein Fass, das zweihundert Liter Benzin enthielt, und die gesamte Ladenzeile von El Paso brannte ab. Vielleicht um den Verlust wettzumachen und den Lebensunterhalt zu verdienen, zog mein Vater daraufhin auf eine Farm um, die er von seinem Vater geerbt hatte.
Seit meinen frühesten Jahren legte ich eine Abneigung gegen alles an den Tag, was mit dem Leben auf der Farm zusammenhing, und mein Vater erzählte gern, dass ich als kleiner Junge eine Säge genommen und die Ladeklappen seines besten Fuhrwerks zerstört hatte. Damals gab es in der Familie zwei Söhne: Ich war der älteste, und nach mir kam Joe, der zwei Jahre jünger war. Ich vermute, dass Armut in einigen Menschen den Wunsch weckt, reich zu sein. Bei meinen Eltern weckte ihre fehlende Ausbildung den Entschluss, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten sollten. Deshalb zogen sie nach Peoria um, damit ich in der dortigen Schule der St.-Mary’s-Pfarrei angemeldet werden konnte, und so begann meine christliche Schulbildung.
Damals erhielt ich auch den Namen Fulton. Offenbar weinte ich während der ersten beiden Jahre meines irdischen Daseins fast ununterbrochen. Später, als Junge, war ich sehr verlegen, wenn wir Verwandte besuchten, und ein Arzt der Familie begann seine Unterhaltung mit meiner Mutter immer mit den Worten: »Oh, das ist der Junge, der nie aufhören konnte zu weinen.« Ich wurde für meine Mutter eine solche Belastung, dass ihre Eltern ihr oft tröstend beistehen mussten.
Verwandte und Freunde sagten häufig im Scherz zu meiner Mutter: »Oh, er ist Fultons Baby.« Bei der Anmeldung in der Schule fragte man meinen Großvater Fulton nach meinem Namen und er antwortete: »Fulton.« Ich war zwar in der St.-Mary’s-Kirche in El Paso, Illinois, auf den Namen Peter getauft worden, doch ab jetzt wurde ich Fulton genannt. Später wurde mein Bruder Joe Rechtsanwalt in Chicago und der nächste nach ihm, Tom, wurde Arzt in New York, und der vierte, Al, ging in die Industrie – die Kinder von Newton und Delia Sheen haben also tatsächlich eine solide Ausbildung erhalten. Dreißig oder vierzig Jahre später, als ich nach einem Zusammenbruch in einem Rundfunkstudio ins Krankenhaus gebracht worden war, entdeckte mein Bruder, der Arzt, dass ich als Kind Tuberkulose gehabt hatte, die die Tränenausbrüche verursacht hatte. Diese hatten ihrerseits die Kalziumproduktion angeregt, was zur Heilung der Krankheit beitrug und mir zu starken Lungen verhalf. Jedenfalls wurde ich – nachdem ich bei der Firmung noch den Namen John bekommen hatte – so zu Fulton John Sheen.
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