128 ‚Vernehmung ist die dem Staat durch das Gesetz eingeräumte Kommunikationsform, den Bürger zu einem Tatverdacht zu befragen‘, ist ein Satz, den die meisten unterschreiben werden. Spannender ist aber die Beantwortung der Frage, ob dies in offener – erkennbarer – Form nicht auch die ausschließlich zulässige Kommunikationsformstaatlicher Strafverfolgungsorgane ist. Schumann nähert sich dem Begriff der Vernehmung in traditioneller Auslegung, und zeigt, dass in der geschichtlichen Entwicklung Vernehmung und Verhör die amtliche Befragung unterschiedlicher Auskunftspersonen durch Richter war, wobei diese Situation offen liegt und erkennbar ist, also einen formellen Vernehmungsbegriff impliziert. Ein materieller bzw. funktionaler Vernehmungsbegriff ist historisch nicht belegbar. Allerdings stellt diese Feststellung zunächst ein Zwischenergebnis dar, ist doch die Auslegung einem Wandel von Zeit, Praktiken und Vorstellungen erlegen. Mit gewichtigen dogmatischen, auch verfassungsrechtlichen Argumenten wird allerdings dargelegt, dass eine förmliche Vernehmung die einzig zulässige strafprozessuale Befragungsmethode ist – auch im Hinblick auf die Validität der Aussagen und eines Grundrechtsschutzes durch das Verfahren. Informatorische Befragungen sind davon gedeckt, solange sie den Beschuldigtenstatus klären sollen, nicht aber Vorgespräche bei bestehendem Anfangsverdacht gegen die Auskunftspersonen. Verdeckte Befragungen unterfallen dann konsequent bereits einem Methodenverbot und greifen – mangels prozessualer Ermächtigung – in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein. Von Ihering lässt grüßen: ‚ Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit. Denn die Form hält der Verlockung der Freiheit zur Zügellosigkeit das Gegengewicht, sie lenkt die Freiheitssubstanz in feste Bahnen, dass sie sich nicht zerstreue, verlaufe, sie kräftigt sie nach innen, schützt sie nach außen. Feste Formen sind die Schule der Zucht und Ordnung und damit der Freiheit selber und eine Schutzwehr gegen äußere Angriffe, sie lassen sich nur brechen, nicht biegen.‘ “
2.1Begriff der Vernehmung
129 Der Begriff der Vernehmung wird oftmals verkannt und in unzutreffender Weise auf den Akt der Dokumentation einer Vernehmung verengt.
Beispiel:
130Polizeibeamte werden zu einem Einsatz gerufen. Am Tatort steht schnell fest, dass eine Straftat begangen wurde und wer als Täter dieser Straftat in Betracht kommt. Diese Person wird darum gebeten, „zu einer Vernehmung“ mit ins Polizeipräsidium zu kommen. Auf der gemeinsamen Fahrt dorthin erfolgt ein umfangreiches Gespräch über die Tat .
131 Für viele Vernehmende beginnt eine Vernehmung erst dann, wenn sie im Dienstzimmer die entsprechenden Formulare aufrufen und dann den Beschuldigten belehren. Dies ist falsch. Der Begriff der Vernehmung ist weit auszulegen und umfasst alle Bekundungen von Zeugen und Beschuldigten aufgrund einer amtlichen Befragung. Der BGHhat den Begriff der Vernehmung wie folgt definiert:
„Eine Vernehmung ist eine Befragung, die von Staatsorganen in amtlicher Funktion durchgeführt wird mit dem Ziel der Gewinnung einer Aussage.“ 2
132 „Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind diese Vorschriften auf Befragungen eines Beschuldigten durch Privatpersonen nicht anwendbar. Zum Begriff der Vernehmung im Sinne der StPO gehört vielmehr, dass der Vernehmende der Auskunftsperson in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von ihr eine Auskunft verlangt. Da die Regelungen nach ihrem Sinn und Zweck den Beschuldigten vor der irrtümlichen Annahme einer Aussagepflicht im Rahmen einer Kraft staatlicher Autorität vorgenommenen Befragung bewahren sollen, sind sie auch dann nicht entsprechend anwendbar, wenn eine „vernehmungsähnliche“ Situation durch eine Privatperson, die … als Informantin der Polizei tätig wird“ 3, vorliegt.
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Praxistipp: |
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Entscheidend ist daher, dass die Auskunftsperson von einem staatlichen Organ in amtlicher Funktion zu einem den Gegenstand eines Strafverfahrens bildenden Sachverhalt angehört worden ist. |
134 Sachverhaltsermittlungen und Befragungen von Auskunftszeugen durch Privatdetektiveund/oder Strafverteidigersind daher keine Vernehmung i.e.S., sondern bloße Anhörungen, 4für die die Vorschriften über die Belehrungspflichten und die verbotenen Vernehmungsmethoden weder direkt noch entsprechend anwendbar sind. 5Macht allerdings ein anwaltlich angehörter Zeuge später im Rahmen der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, unterliegen seine gegenüber dem Verteidiger gemachten Angaben entsprechend dem Rechtsgedanken der §§ 52, 252 StPO einem Verwertungsverbot. 6
135 Ungeachtet der Regeln des Strafverfahrens hat allerdings gerade der Strafverteidigerein ureigenes Interesse an der Informationsgewinnung. Neben der Möglichkeit der Rezeption des gesamten von Staatsanwaltschaft und Gericht zusammengetragenen Prozessstoffes (in aller Regel durch Akteneinsicht ermöglicht), besitzt er eine maßgebliche zusätzliche Informationsquelle in Form des eigenen Mandanten. Innerhalb des engen (und geschlossenen) Verteidiger-/Mandantenverhältnisses gilt es für den Verteidiger, seinen Informationsstand valide zu vervollständigen. Dazu bedarf es eines „kühl kalkulierten Gesprächs in geschäftlicher Atmosphäre“, um zu einem abgerundeten Erkenntnisstand zu gelangen, der den Aufbau einer soliden Verteidigungsstrategie ermöglicht. Diese Form der Informationsgewinnung unterliegt denselben kommunikativen Regeln wie jedes andere „Gespräch“ (einschließlich der Vernehmung) und erfordert ähnliche Taktiken. Der Strafverteidiger sollte sich dabei etwa der Erkenntnisse des kognitiven Interviews 7bedienen.
136 Themenbezogen soll hier von einer Vernehmung im Ermittlungsverfahren die Rede sein. Voraussetzung für das Vorliegen einer Vernehmung im formellen Sinne ist also der Umstand, dass von den Strafverfolgungsbehörden (schon) ein Ermittlungsverfahren eingeleitetworden ist. Diese Betrachtung erleichtert Abgrenzungen zu „Anhörungen“, „Befragungen“, „Anzeigenaufnahmen“ und im weitesten Sinne auch zu „Gefährderansprachen“, worauf im Einzelnen noch näher einzugehen ist.
137 Voraussetzung ist das Vorliegen eines „staatlichen Informationsbedürfnisses“. Dem Vernommenen muss also zunächst klar sein, dass er sich mit einem Polizisten unterhält, der „in Ausübung seines Dienstes“ mit ihm spricht. Dann muss er auch bemerken, dass die Staatsgewalt ein Informationsbedürfnis hat und ein Verfahren eingeleitet ist. Ist Letzteres offensichtlich und stellt der Polizeibeamte konkrete inhaltliche Fragen, liegt bereits eine polizeiliche Vernehmung vor. 8Es ist davon auszugehen, dass in dieser Situation zumindest eine Gedächtnisprotokollierung vorgenommen wird.
138 Die Vernehmung ist – dem Wort nach – das „Hören“ der Darstellung von Auskunftspersonen. Sie ist mündlich durchzuführen und zu protokollieren. Dies dient der Dokumentation im Verfahren; der Inhalt und sein Zustandekommen sollen nachvollziehbar sein. „Vernehmen kann man nur das, was jemand spricht.“ 9Im Unterschied zu schriftlichen Anhörungen 10handelt es sich also um einen Kommunikationsprozess, der zwischen (mindestens) zwei anwesenden Menschen stattfindet.
139 Eine unmittelbare körperliche Anwesenheit ist dabei nicht erforderlich; ausreichend ist vielmehr die direkte Kommunikationsmöglichkeit, die auch durch das Telefon gegeben ist. Eine Unterhaltung per SMS, in Chatrooms oder per E-Mail reicht demgegenüber nicht aus, sondern ist der schriftlichen Äußerung gleichzusetzen.
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