1.10Historische Reminiszenz
124 Bei Aufräumarbeiten tauchten zwei Runderlasseauf, die sich in den Jahren 1926und 1927mit Vernehmungen und Geständnissen befassten; sie sollen – und dürfen – dem Leser nicht vorenthalten bleiben, zumal die dort aufgestellten Parameter mit marginalen Änderungen heute noch Geltung beanspruchen.
VI. Vernehmungen Kriminalpolizeiliche Ermittlungen
RdErl. d. Pr.MdI. v. 27. 11. 1926 – II C II 32 Nr. 35/26 – u. RdErl. d. Innenministers v. 17. 5. 1951 – IV A 2 II b 4800-426 II
Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen haben sich auch auf die für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters bedeutsamen Umstände zu erstrecken. Es soll größtmögliche Klarheit darüber geschaffen werden, inwieweit die Tat auf verwerfliche Gesinnung oder Willensneigung des Täters und wieweit sie auf Ursachen zurückzuführen ist, die den Täter zu entlasten geeignet sind .
Bei der verantwortlichen Vernehmung von Beschuldigten hat daher der vernehmende Polizeibeamte sein Augenmerk auch darauf zu richten, ob die Gesamtumstände der Straftat, das Verhalten des Beschuldigten bei seiner verantwortlichen Vernehmung oder die Zeugenaussagen den Verdacht rechtfertigen, daß die Voraussetzungen des § 51 StGB vorliegen. Bei Hirnverletzten und Spätheimkehrern ist dieser Frage besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Etwaige Verdachtsgründe hat der vernehmende Polizeibeamte im Anschluß an die verantwortliche Vernehmung in einem Vermerk aktenkundig zu machen .
Ferner sind zu berücksichtigen:
a)das Vorleben des Täters, namentlich seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zur Zeit der Tat ,
b)Beweggründe und Anreiz zu der Tat ,
c)das Verhalten nach der Tat (Reue, Bemühungen, den verursachten Schaden wiedergutzumachen) ,
d)die gegenwärtigen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters und die durch die Verurteilung oder die Strafvollstreckung für ihn oder seine Familie zu erwartenden Nachteile (Verlust einer Stellung usw.) .
Die Polizeibeamten haben indessen in jedem Einzelfalle zu erwägen, ob die Art und Schwere der strafbaren Handlung und die hiernach zu erwartende Strafe eingehende Ermittlungen in der unter a) bis d) angegebenen Richtung rechtfertigen und inwieweit sie als Polizeibeamte in der Lage sind, solche Ermittlungen anzustellen, ohne unnötig und unbefugt in die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse von Personen einzudringen. Bei Übertretungen und leichten Vergehen wird von eingehenden Ermittlungen regelmäßig abzusehen sein, wenn nicht die Staatsanwaltschaft sie ausdrücklich verlangt oder besondere Umstände der Straftat sie ausnahmsweise begründen .
Die Polizeibeamten sind entsprechend zu unterweisen, insbesondere hat dies auf den Polizeischulen zu geschehen .
1.10.2Geständnisse beschuldigter Personen 70
Geständnisse beschuldigter Personen RdErl. d. Pr.MdI. v. 22.6.1927 – II D 377 II
Der erfahrungsmäßig häufige Fall, daß Beschuldigte ein vor der Polizei abgelegtes Geständnis vor Gericht widerrufen, und infolgedessen mangels weiteren Schuldbeweises außer Verfolgung gesetzt oder freigesprochen werden müssen, gibt Veranlassung, die wichtigsten Erfordernisse einer Niederschrift einer verantwortlichen Vernehmung und insbesondere der Geständnisse beschuldigter Personen in Erinnerung zu bringen .
Wenn Beschuldigte auch nicht gezwungen werden können, überhaupt auszusagen oder gar eine wahrheitsgemäße Aussage zu machen, so wird es doch in den meisten Fällen durch freundliches Ermahnen oder ernstes Zureden neben wohlwollender Behandlung, geschickter Einwirkung auf das Ehrgefühl und durch Vorhalten der ermittelten Tatsachen möglich sein, den Beschuldigten zu einer wahrheitsgemäßen Aussage zu veranlassen. Die Anwendung unlauterer Kniffe zur Herbeiführung eines Geständnisses oder ein mittelbarer oder unmittelbarer Zwang, wie seelische Einwirkung in Form von Drohungen oder gar körperliche Zwangsmaßnahmen, sind unzulässig und verboten. Nach § 343 StGB wird ein Beamter, welcher in einer Untersuchung Zwangsmittel anwendet oder anwenden läßt, um Geständnisse oder Aussagen zu erpressen, mit Zuchthausstrafe bedroht .
Wie aber jede Niederschrift einer Vernehmung nur dann Wert hat, wenn sie alles enthält, was zu den Tatbestandsmerkmalen der strafbaren Handlung gehört, so haben auch Geständnisse nur dann Beweiskraft, wenn Tatsachen eingeräumt werden, die den Tatbestand der strafbaren Handlung klar und deutlich erkennen lassen. Es erscheint deshalb erforderlich, nicht nur die kurze Tatsache eines Geständnisses etwa mit den Worten: „Ich räume die mir zur Last gelegte Straftat ein“ schriftlich niederzulegen, sondern über den Inhalt des Eingeständnisses, insbesondere über die Einzelheiten der Begehung der Tat, ein eingehendes Protokoll aufzunehmen und, wenn irgend möglich, solche Einzelheiten über die Ausführung der Tat aktenkundig zu machen, die nur der wirkliche Täter wissen konnte. Ist der Beschuldigte nicht ohne weiteres geständig, sondern wird er erst durch Vorhaltungen und Fragen zu einem Schuldgeständnisse veranlaßt, so empfiehlt es sich, auch die an ihn gerichteten Fragen und die darauf erteilten Antworten, die das Eingeständnis herbeiführten, zu protokollieren. Ein Vermerk am Schlusse des Protokolls, ob der Beschuldigte sein Eingeständnis ohne weiteres abgelegt hat, oder ob er erst durch Vorhaltungen und Fragen zu einem solchen bewogen werden konnte, wird ebenfalls zweckdienlich sein. Von ganz besonderer Bedeutung für die Entkräftung eines späteren Widerrufs ist auch die Namhaftmachung von Polizeibeamten oder sonstigen Zeugen, die der Vernehmung etwa beigewohnt und das Geständnis mit angehört haben. Auch die Protokollierung des Schuldbekenntnises mit den eigenen Worten und Ausdrücken des Geständigen wird stets geeignet sein, die Beweiskraft des Eingeständnisses zu erhöhen. Es bedarf keines besonderen Hinweises, daß den Beschuldigten in allen Fällen Gelegenheit zu ausführlichen Äußerungen und zu eigenen Ausführungen gegeben werden muß, und daß diese Ausführungen auch in dem von ihm gemeinten Sinne zu Protokoll zu bringen sind, daß also die Aussage ihm weder in den Mund gelegt werden, noch auch in einer den Wünschen des Vernehmenden entsprechenden Auffassung zu Papier gebracht werden darf .
Schließlich sei noch daran erinnert, daß nicht nur belastende, sondern auch entlastende Momente zu berücksichtigen sind, da nach § 136 Abs. 2 StPO die Vernehmung dem Beschuldigten Gelegenheit zur Beseitigung der gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe und zur Geltendmachung der zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geben soll .
1.11Vernehmungen im EU-Kontext
125 Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union haben seit 2012 diverse Richtlinien erlassen, die das Recht der Belehrung und Unterrichtung im Strafverfahren betreffen. Die Vorgaben wurden – soweit ersichtlich – zwischenzeitlich umgesetzt und haben zu zahlreichen Änderungen in der StPO und im GVG geführt, die an den entsprechenden Stellen erörtert werden.
1Vgl. Heubrock, Gedächtnispsychologische Grundlagen der Zeugenvernehmung, Kriminalistik 2010, 75 ff.; Hermanutz/Adler/Schröder, Forschungs- und Anwendungsbereiche von Vernehmungsstrategien und Aussageanalyse in der polizeilichen Ermittlung, Kriminalistik 2011, 43 ff.; Hussels, Grundzüge der Irrtumsproblematik im Rahmen der Glaubhaftigkeitsbeurteilung, Kriminalistik 2011, 114 ff.
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