85 Diese Vorstellung ist schlichtweg unzutreffend: Es gibt keine personenbezogene – quasi allgemeine – Glaubwürdigkeit und damit keinen Leumund. Der BGH trägt dieser Feststellung dadurch Rechnung, dass er Fragen an Zeugen, die deren Verhalten in vorangegangenen vergleichbaren Situationen (uneidliche falsche Aussage oder gar Meineid in einem vorangegangenen Gerichtsverfahren) aufklären sollen, als grundsätzlich unzulässig erachtet. 47 Falschaussagenwerden nicht durch stabile Persönlichkeitsmerkmale, sondern durch situative und damit variable Faktoren hervorgerufen. 48
86 Diesem Gedanken trägt auch die neue Gesetzgebung Rechnung; zum 1.10.2009 wurde durch das 2. Opferrechtsreformgesetz § 68a Abs. 2 S. 1 StPO neu eingefügt.
§ 68a StPO Beschränkung des Fragerechts aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes
(2) Fragen nach Umständen, die die Glaubwürdigkeit des Zeugen in der vorliegenden Sache betreffen, insbesondere nach seinen Beziehungen zu dem Beschuldigten oder der verletzten Person, sind zu stellen, soweit dies erforderlich ist.
87 Vor diesem Hintergrund erscheinen auch empirische Untersuchungen, nach denen Männer mehr lügen als Frauen und geringer gebildete Menschen eine verminderte Lügenquote aufweisen, 49zweifelhaft; sie können jedenfalls für eine konkrete Vernehmungssituation keine brauchbaren Parameter liefern.
88 Das Verhalten und die Unbeholfenheit „der Justiz“ – gemeint sind Richter und Staatsanwälte – dokumentierten sich im Kachelmann-Verfahren als einprägsames Negativbeispiel. Hier wurden Leumundszeugen in allen Richtungen benannt und vernommen, was bei genauer Betrachtung schlichtweg überflüssig ist.
1.7.3Fehlen von Realitätskriterien
89 Die Realitätskriterien wurden bereits erörtert; es bedarf daher an dieser Stelle nur der Benennung des daraus folgenden Umkehrschlusses: Das Fehlen von Realitätskriterien ist ein gewichtiges Indiz für das Vorliegen einer Lüge.
1.7.4Weitere Warn- und Lügensignale
90 Daneben haben Bender/Nack/Treuer eine Dreiteilung von Warnsignalen vorgenommen, die es zu unterscheiden und zu beachten gilt: 50
Warnsignale |
Verlegenheit |
Übertreibung |
Mangelnde Kompetenz |
•Zurückhaltung •Unterwürfigkeit •Unklarheiten, Versprechen •doppelte Negationen |
•übertriebene – biologisch unmögliche – Exaktheit •Entrüstung bis Dreistigkeit •Begründungen für einen Sachverhalt statt Schilderung eines Tatsachengeschehens |
•karge, abstrakte Sachverhaltsschilderungen •fehlende Komplikationen •ausschließlich zielgerichtete Bekundung |
Übersicht: Warnsignale bei Vernehmungen
91 Nicht jedes Warnsignalbeweist bei isoliertem Vorliegen eine Lüge; die vorgenannten signifikanten Merkmale können ihren Ursprung etwa auch darin haben, dass der zu Vernehmende allein die Vernehmungssituation – oder sein aktuelles persönliches und berufliches Umfeld – als großen Stressfaktorempfindet, 51und ihn dies veranlasst, Warnsignale zu produzieren und zu verbreiten.
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Praxistipp: |
92 |
Die Warnsignale entfalten eine Indizwirkung; ihr Vorliegen muss zur Folge haben, dass der Vernehmende ihr Zustandekommen und seine eigene Schlussfolgerung in besonderem Maße kritisch hinterfragt. |
93 Selbst eine jahrzehntelange Berufs- und Vernehmungserfahrung begründet hier nicht zwingend eine sichere Einschätzung. 52
Hier ist eine Falsifikationsstrategieanzuwenden, 53mit der, vor dem Hintergrund aller vorhandenen Informationen, hinterfragt wird, was für die Richtigkeit der scheinbar unzutreffenden Aussage spricht. Sofern der Vernehmende auch danach noch vom Vorliegen einer Lüge überzeugt ist, hat er den zu Vernehmenden damit zu konfrontieren.
1.8Zuverlässig funktionierende Lügenerkennungsmethoden?
94 Wer glaubt, anhand von Aussagen die Wahrheit erkennen zu können, wird – entgegen anderslautenden Veröffentlichungen 54– in der Praxis schnell eines Besseren belehrt. Insbesondere der Körpersprachewird hier eine Schlüsselfunktion zugeschrieben, die sie nicht hat; darauf wird im Rahmen der Fragetechniken ausführlicher eingegangen werden. 55Das Ergebnis sei an dieser exponierten Stelle vorweggenommen:
95 Es gibt keine zuverlässig funktionierende Lügenerkennungsmethode; eine Bewertung des Wahrheitsgehalts einer Aussage anhand körperlicher Verhaltensmuster verbietet sich.
1.9Kurze tatsächliche Bestandsaufnahme
96 Negativbeispieleaus der Vergangenheit und Praxis polizeilicher Vernehmungen spiegeln sicherlich nicht das Alltagsgeschäft oder gar die übliche Vernehmungspraxis wider; sie sind nicht repräsentativ. Ihr Vorkommen und ihre Resonanz in der Bevölkerung sind allerdings unbestreitbar.
97 Unstreitig ist jedes Fehlurteil, das zu einer Verurteilung führt, eines zu viel, wohl aber leider nicht immer vermeidbar, mithin Teil einer kritischen Bestandsaufnahme der Strafjustiz. Die an mancher Stelle 56auftauchende Behauptung, jedes vierte Strafurteil sei falsch und ein Fehlurteil, ist eine bloße – nicht verifizierte – Schätzung und definiert zudem nicht, ab wann Falschheit vorliegt: Falsche Tatsachenfeststellungen, falsche Sanktionen oder Verurteilung statt Freispruch und anders herum?
98 Veröffentlichungen zu Fehlern im Strafverfahrensind lesenswert: Peters 57 und Hirschberg wurden von Darnstädt im Jahre 2013 beerbt; sämtliche Werke sollten schon in der Kriminalistenausbildung als Pflichtlektüre verordnet werden. Selbstkritische Hinterfragung von Hypothesen und/oder Versionen kann niemals schaden. Eben diese Grundhaltung in Kenntnis möglicher Fehlentscheidungen erfordert einerseits eine besonders kritische Würdigung „fremder“ Ergebnisse; gemeint sind damit die Vielzahl kriminaltechnischer, psychiatrischer und psychologischer Gutachten, die in immer größerem Maße in den Verfahren eine Rolle spielen. Deren Entscheidungsrelevanz ist reziprok zu ihrem praktisch nicht vorhandenen Stellenwert im juristischen Studium, Referendariat und in der Kriminalistenausbildung; gleiches gilt andererseits für Vernehmungen.
99 Selbst wenn – was nicht überprüft werden konnte – sich in manchen Presseveröffentlichungen „journalistische Ungenauigkeiten“ eingeschlichen haben sollten, führen sie einen Kernbereich misslungener, fehlerhafter und rechtswidriger Vernehmungen mehr als deutlich vor Augen, in denen Vernehmungsbeamte, um eine geständige Einlassung als sicheres Beweismittel zu generieren, über die gesetzlichen Vorgaben und damit das Ziel des Strafverfahrens hinaus schießen.
1.9.1Der Fall Jakob von Metzler
100 Die Entführung (und Ermordung) eines Frankfurter Bankiersohns durch einen Jurastudenten im Jahre 2002 endete Ende 2004 auch damit, dass der damalige Polizeivizepräsident sowie ein ermittelnder Polizeibeamter der Nötigung bzw. der Verleitung eines Untergebenen zu einer rechtswidrigen Tat im Amt – nämlich einer Nötigung – schuldig gesprochen und mit Strafvorbehalt verwarnt wurden. Hintergrund war der Umstand, dass der Vernehmende dem Beschuldigten weisungsgemäß die „Zufügung von Schmerzen“ für den Fall angekündigt hatte, dass er das Versteck des Entführungsopfers nicht preisgibt. 58
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