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Übersicht: Bewertung von Aussagen
46 Die vom OLG auch genannte Hypothese der neutralen Anfangswahrscheinlichkeitgeht im Wesentlichen auf Bender/Nack/Treuer 19zurück; sie ist in der Tat gedanklich ebenso gut vertretbar, lässt allerdings die Konsequenz und gedankliche Eindeutigkeit der Nullhypothese des BGH vermissen.
47 In der berühmten und gefürchteten Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, bei der die Überzeugung von der Richtigkeit von der Aussage eines einzigen Tatzeugen abhängt, gilt die Nullhypothese ebenfalls für beide Seiten. Grundsätzlich kann eine (richterliche) Überzeugungsbildung im Einzelfall auf die Aussage eines einzigen Zeugen gestützt werden, wenn
–selbst bei neutralen Zeugen – wie etwa Polizeibeamten – nicht davon ausgegangen wird, dass der von ihnen bekundete Sachverhalt mit der Realität übereinstimmen muss,
–die Sicherheit der Aussageperson nicht als Indikator für die objektive Richtigkeit gedeutet wird und
–jede Aussage solange als unzuverlässig angesehen wird, wie nicht die Nullhypothese eindeutig und zuverlässig widerlegt ist. 20
1.5.2Realkennzeichen und Warnsignale
48 Im Folgenden sollen die Realkennzeichen und Warnsignalekurz dargestellt werden. 21
Für den Wahrheitsgehalt einer Aussage sprechen als Real- oder Realitätskenn-zeichen
–Details, Verflechtungen und Individualität im Inhalt,
–Erweiterungen und Konstanz bei Wiederholung und
–Widerspruchsfreiheit, Nichtsteuerung und Gleichheit in der Struktur
der Bekundungen.
49 Warnhinweiseund Lügensignale sind demgegenüber
–Verlegenheit, die sich in Zurückhaltung, der Sprache und/oder einer Unterwürfigkeit äußert,
–Kargheit und Strukturbrüche als Zeichen fehlender Kompetenz und
–Übertreibungen in Form von Dreistigkeiten, Bestimmtheit und nicht erforderlichen Begründungen.
50 Bei der Beurteilung von Zeugenaussagen nehmen Lüge und Irrtum etwa einen identischen Raum ein; die Gründe für Irrtümer wurden bereits dargestellt. Im Folgenden geht es nun um die Enttarnung der Unwahrheit anhand signifikanter Merkmale. 22
51 Die zuvor beschriebenen Unwägbarkeiten einer Aussage machen die Aussageanalyse zu einem wichtigen Teil der Überprüfung der Glaubhaftigkeit einer Aussage: Grundlegend hierfür sind die Feststellungen des BGH aus dem Jahr 1999, mit denen er die Voraussetzungen an brauchbare
52 Glaubhaftigkeitsgutachten – einer 14-jährigen Zeugin in einem Missbrauchsverfahren – allgemein festgelegt hat. 23Diese Darlegungen beanspruchen Allgemeingültigkeit und stellen insgesamt acht Qualitätskriterienfür eine Inhalts- und Konstanzanalyse auf:
–Detailreichtum der Aussage,
–individuelle – ausgefallene – Besonderheiten,
–raum-zeitliche Verknüpfung mit objektivierbaren Faktoren,
–Konstanz in wesentlichen Teilen,
–Homogenität der Aussage,
–ungeordnete – aber psychologisch erklärbare – Beschreibungen,
–spontane Erweiterungen,
–Objektivität durch Beschreibung be- und entlastender Umstände.
53 Der Detailreichtum einer Schilderung stellt das erste inhaltliche Beurteilungskriterium dar: (Nur) Wer etwas auch tatsächlich erlebt hat, kann dies plastisch schildern und quasi wie einen Film für den Vernehmenden abspulen. Wird man in die Lage versetzt, anhand der Schilderung beobachtender Teil des Geschehenen zu werden, spricht viel für eine wahrheitsgetreue Schilderung.
54 Besondere Problemetreten hier allerdings dadurch auf, dass es auch Situationen gibt, in denen
–etwas bereits tatsächlich Erlebtes in eine andere Lebenssituation projiziert wird,
–etwas anderweitig Wahrgenommenes einem Transfer unterzogen wird. Eine allzu ausführliche Berichterstattung in den Medien, Darstellungen im Internet und die sogenannten Realityshows führen dazu, dass Unbeteiligte über scheinbares Insiderwissen, das detailreiche Schilderungen ermöglicht, verfügen.
55 Hier ist es die schwierige Aufgabe des Vernehmenden, einen derartigen Transfer zu erkennen; allerdings lehrt die Gedächtnispsychologie, dass eine solche Übertragung an den zu Vernehmenden hohe Anforderungen stellt und daher eher selten vorkommt.
1.6.2Individuelle – ausgefallene – Besonderheiten
56 Schildert eine Aussageperson individuelle – ausgefallene – Besonderheiten in ihrer persönlichen Ausdrucksweise, spricht dieses weitere Inhaltskriterium für eine wahre und erlebte Begebenheit. Es erfolgt nicht etwa eine Schilderung aus einer Art Vogelperspektive, sondern eine emotionale und individuelle Wiedergabe, die Nebensächlichkeiten, Belangloses und Assoziiertes teilweise in den Mittelpunkt rückt; auch ein teilweise geschildertes eigenes Unverständnisstärkt die Individualität und damit die Glaubhaftigkeit der Aussage.
1.6.3Raum-zeitliche Verknüpfung mit objektivierbaren Faktoren
57 Letztes inhaltliches Kriterium ist die raum-zeitliche Verknüpfung mit objektivierbaren Faktoren. Es stützt – was ohne weitere Erläuterung einleuchten dürfte – die Richtigkeit einer Aussage, wenn sich deren Inhalte in objektivierbare und beweisbare Ermittlungsergebnisse einfügen.
1.6.4Konstanz in wesentlichen Teilen
58 Ein strukturelles Kriterium ist die Konstanz in wesentlichen Teilen; hier ist zu überprüfen, ob die Aussage inhaltlich, sprachlich und situativ gleich bleibt. Dies gilt insbesondere bezüglich einer gleichmäßigen Schilderung von relevantem und irrelevantem (Tat-)Geschehen und dem Fehlen innerer Widersprüche.
59 Sofern sich unterschiedliche Teile der Aussage decken und sich, zunächst scheinbar unwichtige, Details wie bei einem Puzzle zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügen lassen, spricht auch dieses strukturelle Kriterium für eine wahre Aussage.
1.6.6Ungeordnete – aber psychologisch erklärbare – Beschreibungen
60 Auch bei diesem Punkt wird die Struktur einer Aussage analysiert: Schildert eine Auskunftsperson ein scheinbar zusammenhangloses, zunächst unverständliches Detail, das sich später in das Ermittlungsergebnis einfügt, begründet dies keinen Zweifel an der Wahrheit.
61 Auch eine ungeordnete, nicht chronologische Wiedergabe ist hier ein Wahrheitskriterium, da der Lügner zu einer solchen Leistung – bleibt der Aussageinhalt konstant – nur selten in der Lage sein wird.
1.6.7Spontane Erweiterungen
62 Der Lügner steht vor seinem Lügendilemma; 24der Ausweg für ihn besteht scheinbar darin, Widersprüche zu unterdrücken bzw. nicht aufkommen zu lassen, indem er sich beharrlich auf seine ursprüngliche Version beruft und von dieser nicht abrückt. Zu spontanen Erweiterungen und Ergänzungen dieser Angaben ist er nicht in der Lage und auch nicht darauf vorbereitet. Spontane Erweiterungen sind aus seiner Sicht gefährlich und werden daher unterlassen.
63 Positiv ausgedrückt sind daher Lückenauffüllungen, spontane Präzisierungenund Erweiterungenein deutliches Indiz für eine wahrheitsgemäße Aussage.
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