»Okay.«
Nicht über meine Wohnsituation zu reden, erschien mir zu dem Zeitpunkt als keine große Sache.
Wie Astrid sagte, es war vorübergehend.
Im Handumdrehen würden wir wieder eine Wohnung haben.
An meinem ersten Tag in Blenheim war ich so nervös, dass meine Verdauung zur Höchstgeschwindigkeit auflief, was in den besten Zeiten schon nicht gut ist, und wirklich gar nicht gut, wenn man in einem Bus wohnt.
Zum Glück hatten wir in dieser Nacht ein paar Straßen von der Schule entfernt geparkt, gegenüber dem örtlichen Gemeindezentrum. Astrid hatte es so geplant, damit wir eine Möglichkeit hatten, uns morgens frisch zu machen. Innerhalb von einer halben Stunde flitzte ich drei Mal hinüber, um das Klo zu benutzen.
Am Vortag waren wir zu Soleils Haus gefahren, um noch ein paar von unseren Sachen zu holen; dickere Pullis, wärmere Jacken, Schuhe und die Schulsachen, die ich noch vom letzten Jahr hatte.
Als wir ankamen, war die Einfahrt leer und alle Jalousien heruntergelassen.
»Ich glaube, es ist keiner zu Hause«, sagte ich.
»Kein Problem.« Astrid fuhr los. Ich dachte, wir würden wegfahren. Stattdessen bog sie zweimal rechts ab und hielt in einer Gasse hinter Soleils Grundstück.
Meine Eingeweide verkrampften sich. »Was machst du?«
»Reingehen.«
»Mom«, sagte ich. Sie sah mich scharf an; sie mag es nicht, wenn ich sie so nenne. »Wir brechen nicht ein.«
»Wer hat denn was von Einbrechen gesagt?« Sie zog einen Schlüssel aus ihrer Tasche.
»Soleil hat dir einen Schlüssel gegeben?«, fragte ich, als wir aus dem Bus stiegen.
Astrid öffnete das hintere Tor. »Ja und nein. Sie hat ihn mir für die Dauer unseres Aufenthaltes gegeben. Ich habe ihn nachmachen lassen, bevor ich ihn ihr zurückgegeben habe.«
Meine Eingeweide verkrampften sich erneut. »Dann brechen wir ein .«
Sie steckte den Schlüssel ins Türschloss. »Nicht, wenn wir nur unsere Sachen mitnehmen.«
Ich fing an zu hicksen. Das passiert immer, wenn ich Angst bekomme. »Und wenn sie nach Hause kommen?«
»Werden sie nicht. Sie sind im Urlaub. Ich hab meine Hausaufgaben gemacht.«
»Also hast du es so geplant. Hicks!«
Astrid drückte die Tür auf. Wir wurden von einem schrillen Fiepton begrüßt.
Eine Alarmanlage. Meine Eingeweide erschlafften.
Aber Astrid gab nur einen Code in das Bedienfeld ein und der schrille Ton verstummte. »Böna, alles gut. Soleil wird nie erfahren, dass wir hier waren.«
Schlussendlich verbrachten wir den gesamten Nachmittag dort. Astrid wusch unsere Wäsche. Dann ließ sie im Gästebad ein Schaumbad für mich ein. Mein Widerwillen schmolz dahin, als ich in die Wanne stieg. Es war herrlich. Während ich einweichte und mich abseifte, ließ sie für sich den Whirlpool im Badezimmer volllaufen.
Ich schäme mich ein bisschen, das zuzugeben, aber wir plünderten auch ihre Gefriertruhe. Eine tiefgekühlte Lasagne rief förmlich nach uns. Also wärmten wir sie auf und aßen sie. Astrid entdeckte eine Plastikdose in einer von Soleils Schubladen und tat die Reste hinein, damit ich sie als Mittagessen mitnehmen konnte.
Es war schon ziemlich toll, zum ersten Mal seit einem Monat in einem richtigen Haus zu sein. Also gingen wir nach dem Abendessen immer noch nicht. Wir saßen im Wohnzimmer und guckten Fernsehen, einschließlich meiner Lieblingssendung Wer, Was, Wo, Wann , was wie Jeopardy! auf Steroiden ist. Im Unterschied zu Alex Trebek fuchtelt Horatio Blass, der Moderator von Wer, Was, Wo, Wann , mit den Armen, spricht mit dröhnender Stimme und macht dauernd: »Wuuuuu-huuuuu!«
Ich rief die Antworten, bevor die Kandidaten den Mund aufmachten. Fast immer hatte ich recht. Ich will nicht angeben; es ist einfach so, dass ich ein komisches Talent habe, Fakten abzuspeichern. Und da meine Mom alles von Anthropologie bis Weltgeschichte und obendrein noch englische Literatur studiert hat, habe ich über die Jahre eine LKW-Ladung Fakten aufgeschnappt. »Du bist wie ein Schwamm«, sagte ein Lehrer mal zu mir, nachdem ich aus dem Gedächtnis Martin Luther Kings Rede Ich habe einen Traum rezitiert hatte.
Während wir fernsahen, schweifte mein Blick zu einem riesigen schwarz-weißen Familienporträt, das über dem Kamin hing. Soleil, ihr Ehemann und ihre Zwillingssöhne trugen beinahe identische Kleidung: cremeweißer Pullover mit Rundhalsausschnitt und eine dunkle Hose.
Ich will nicht leugnen, dass ich ein neidisches Ziepen verspürte. Sie sahen so glücklich aus. So reich.
Wir wollten keine Aufmerksamkeit erregen, indem wir Licht anmachten, also hauten wir ab, als es langsam dunkel wurde. Ich möchte betonen, dass wir den Ort makellos hinterließen.
Vielleicht sogar sauberer, als er bei unserer Ankunft gewesen war. Und wir nahmen nur die Lasagne. Und die Plastikdose. Und ein Bier für Astrid und eine Limo für mich.
Ich bin ziemlich sicher, es war bloß ein seltsamer Zufall, dass meine Mutter eine Woche später einen Pullover trug, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Cremeweiß. Rundhalsausschnitt.
Bevor ich zur Schule losging, nahm Astrid mich noch einmal in Augenschein. Wie immer waren meine Haare ein gewaltiger Bausch aus Blond, seidig sauber, und dufteten wunderbar. Ich trug eine Jeans aus dem Secondhandladen – wieso jemand woanders einkauft, ist mir schleierhaft – und mein Lieblings-T-Shirt mit der kanadischen Flagge und dem Spruch MEMBER OF THE EH-TEAM darauf.
»Du siehst klasse aus«, sagte Astrid. »Ich hoffe, es wird ein wundervoller Tag.«
»Ebenfalls.« Sie wollte auf Jobsuche gehen. Sie trug eine graue Stoffhose, Ballerinas und eine ihrer hübschen Blusen. Astrid weiß, wie man einen guten ersten Eindruck macht. Mit den späteren Eindrücken wird es manchmal problematisch.
Ich lief die paar Blocks bis Blenheim. Es war ein herrlicher Tag. Kastanienbäume standen zu beiden Seiten der Straße und ihre Blätter raschelten im Wind. Mein Magen gluckste, weil ich zum Frühstück nur eine Banane gegessen hatte; für mehr war ich zu aufgeregt.
Als ich durch die Eingangstür des alten gelben Backsteinbaus trat, versuchte ich ein Selbstbewusstsein an den Tag zu legen, das ich nicht verspürte.
Unwillkürlich fiel mein Blick auf einen Jungen ein Stück weiter hinten im Flur. Er sah aus, als wäre er erst fünf Minuten zuvor aufgestanden. Sein gestreiftes T-Shirt und seine Jeans waren zerknittert, seine Haare waren ein krasser Fall von ›eben aus dem Bett gefallen‹ und er hatte versehentlich sein Hemd in seine Unterhose gesteckt.
Ich erkannte ihn sofort.
Es war Dylan Brinkerhoff, mein alter bester Freund.
»Dylan, hallo«, sagte ich mit rauer Stimme.
Er drehte sich um und guckte mich einen Augenblick lang ausdruckslos an. Mir rutschte das Herz in die Hose. Dann öffneten sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen und enthüllten einen Mund voller Metall. »Felix!« Er umschlang mich mit beiden Armen und drückte mich. »Bist du wegen des Französisch-Intensivprogramms hier?« Er sprach mit einem leichten Lispeln, wegen der Zahnspange, als würde sie an seiner Zunge ziehen.
»Ja. Bitte sag mir, du auch.«
»Ich auch! Heißt das, du wohnst jetzt wieder hier in der Gegend?«
»Das heißt es, genau.«
»Das ist so cool! Wo wohnst du?«
Ich blinzelte hektisch. So früh hatte ich die Frage nicht erwartet.
»Auf der West Side, aber gerade noch so. Lange Busfahrt.« Ich sagte mir, dass es sich hier um eine Unsichtbare Lüge handelte.
»Wer ist dein Lehrer?«, fragte er.
»Monsieur Thibault.«
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