»Sie haben nichts falsch gemacht. Es war vermutlich die verdammte Aushilfe.«
Astrid hatte ihn am Haken. Jetzt musste sie ihn nur noch einholen. »Gibt es denn gar nichts, was wir tun können?«
Obasi schaute sich um und senkte die Stimme. »Ich darf das eigentlich nicht, aber … erst heute Morgen ist ein Platz frei geworden. Normalerweise sollte ich in diesem Fall auf die Warteliste zurückgreifen … Aber in Anbetracht der Tatsache, dass Sie schon vor Urzeiten das Formular eingeschickt haben …«
»Das würden Sie wirklich tun?«, fragte Astrid.
Obasi nickte. Ich entzog mich Astrids Umarmung. »Danke!«, sagte ich. »Danke, danke, Sie haben mich zum glücklichsten Jungen der Welt gemacht! Gott segne uns alle miteinander!«
Ich bin nicht sicher, warum ich Tiny Tim aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte zitierte, aber Astrid war es ganz eindeutig zu viel, denn sie stieß mich mit dem Ellbogen in die Rippen.
Obasi schob ein paar Unterlagen über den Tresen. »Füllen Sie das aus.«
Astrid schenkte ihm ein weiteres strahlendes Lächeln. »Obasi, Sie haben soeben Ihre gute Tat des Jahres begangen. Vielen, vielen Dank.«
Er lächelte zurück. »Das bleibt unser kleines Geheimnis.«
»Oh, auf jeden Fall.«
Ich saß neben Astrid, während sie die Formulare ausfüllte. Mir fiel auf, dass sie unter Eltern oder Vormund einzig und allein ihre Daten eintrug.
Beim Feld Adresse hielt sie inne. Sie warf einen Blick zu Obasi, der in eine neue Runde Solitär vertieft war. Dann zeigte sie auf das Blatt. Ich las, was da stand: Die Adresse muss sich im Einzugsgebiet West Side befinden. Bitte stellen Sie einen Beleg Ihrer Anschrift in Form eines behördlich ausgestellten Identitätsnachweises oder einer Telefon- oder Nebenkostenabrechnung zur Verfügung .
Das war ein Stolperstein. Bislang hatte sie unsere Post zu einem Postfach im Osten von Vancouver weiterleiten lassen, nicht im Einzugsgebiet.
Astrid stand auf. »Obasi, ich habe ganz offenbar meinen Morgenkaffee noch nicht getrunken. Ich habe einige relevante Unterlagen zu Hause vergessen. Hier sind alle anderen Formulare. Ich bitte Sie, vergeben Sie den Platz nicht. Wir kommen gleich morgen früh mit dem Rest.«
Er runzelte die Stirn. »Bis zehn Uhr morgen Vormittag kann ich ihn frei halten, aber länger nicht.«
»Kein Problem.« Sie ließ ihr Lächeln ein letztes Mal erstrahlen. Später im Bus saß sie auf dem Fahrersitz und schwieg. Ich wusste, dass ich still sein musste, sie versuchte auszuknobeln, was sie als Nächstes tun sollte.
Nach ein paar Minuten drehte sie den Schlüssel im Zündschloss. »Keine Sorge. Ich hab’s.«
Wir warteten bis sechs Uhr abends. »Ich muss sichergehen, dass er von der Arbeit zu Hause ist«, sagte Astrid. Sie führte nicht weiter aus, wer ›er‹ war.
Um Punkt 18.01 Uhr fuhren wir eine Einfahrt in Kitsilano hoch. Vor dem Haus standen Fahrräder und ein Trampolin. »Hey«, sagte ich. »Das ist Caitlins Haus.« Ich war mit ihr zur Schule gegangen, damals, zu Zeiten unserer Eigentumswohnung. »Wieso sind wir –«
Astrid hielt bloß eine Hand hoch und sprang aus dem Wagen. »Warte hier.«
Ich beobachtete, wie sie zur Haustür lief und klopfte. Caitlins Vater, Mr Poplowski, öffnete.
Ich könnte schwören, er war perplex, als er meine Mom sah. Er schloss die Tür hinter sich und trat unter das Vordach, als wollte er nicht, dass jemand aus seiner Familie sie sah.
Sie redeten eine Weile. Er wirkte aufgebracht. Dann ging er wieder hinein. Astrid drehte sich um und streckte den Daumen hoch. Im Gegensatz zu Mr Poplowski wirkte sie vollkommen entspannt.
Ein paar Minuten später ging die Tür wieder auf. Mr Poplowski gab meiner Mom ein paar Papiere. Dann schlug er die Tür hinter sich zu.
Astrid hüpfte praktisch zum Bus zurück. »So. Das wäre erledigt.«
»Was hast du gemacht?«
»Wir brauchen eine Adresse. Er hat mir eine verschafft.«
»Wir geben der Schule Caitlins Adresse?«
Sie lachte. »Nein, nein. Ihr Vater lässt uns die Adresse seiner Anwaltskanzlei auf dem Broadway benutzen. Büros im Erdgeschoss, in den oberen Etagen Wohnungen, aber die Schule wird den Unterschied nicht bemerken. Wir können unsere gesamte Post dorthin weiterleiten lassen.«
»Und das ist für ihn in Ordnung?«
Sie fuhr los. »Er hat keine andere Wahl.«
»Aber warum …«
»Felix. Es reicht mit den Fragen.«
Ich hielt die Klappe. Aber ich dachte an das letzte Mal, als ich Mr Poplowski gesehen hatte.
Es war im Winter gewesen. Damals wohnten wir in unserer Eigentumswohnung. Auf dem Weg zur Schule ging es mir noch gut, aber später am Vormittag musste ich mich plötzlich übergeben. Die Schulkrankenschwester sagte, ich würde die Grippe kriegen. Sie rief meine Mom ein paarmal bei der Arbeit an, aber es ging niemand ran, also sagte sie, ich solle mich auf die Pritsche in ihrem Büro legen. Irgendwann wurde mir langweilig. Als die Schwester auf die Toilette ging, schlich ich mich hinaus. Ich wollte einfach nach Hause laufen und mich dort hinlegen, denn wenigstens hatten wir einen Fernseher.
Ich schloss die Wohnungstür auf. Meine Mom war da – mit Mr Poplowski. Er zog gerade seine Schuhe an. »Hey, Felix, alter Kumpel! Was machst du denn schon zu Hause?« Er klang übertrieben enthusiastisch.
»Caitlins Vater ist Anwalt«, sagte meine Mom. »Er hat mir mit dem Vertrag für die Eigentumswohnung geholfen.«
Mir war schwindelig, und außerdem war ich erst acht oder neun, also stellte ich keine Fragen. Aber mein S.H.I.T. fand es sonderbar, dass meine Mom einen geschäftlichen Termin im Bademantel wahrnahm.
Ich will gar nicht allzu viel darüber nachdenken. Aber ich schätze, Caitlins Dad war es lieber, an einer kleinen Lüge beteiligt zu sein als eine große Lüge ans Tageslicht kommen zu lassen.
Auf dem schnellsten Weg fuhren wir zur Bibliothek in Kits. Astrid nahm eines der Blätter, die Caitlins Dad ihr gegeben hatte: eine Stromrechnung seiner Anwaltskanzlei. Sie fuhr einen Bibliothekscomputer hoch und fand eine Schriftart, die der auf der Stromrechnung glich. Sie tippte ihren Namen, Astrid Knutsson , und druckte ihn aus. Dann schnitt sie ihn vorsichtig aus und klebte ihn auf Mr Poplowskis Namen. Sie kopierte die Rechnung und zeigte mir das Ergebnis.
Sah gut aus. Echt.
Am nächsten Morgen um exakt 9.01 Uhr betraten wir das Sekretariat. »Ah, perfekt«, sagte Obasi. »Da sind Sie ja.« Astrid reichte ihm die Rechnung und er begutachtete sie. »Normalerweise nehmen wir keine Kopien an. Wir haben am liebsten das Original.«
»Die Originale sind momentan bei meinem Steuerberater.«
»Ist in Ordnung. Bringen Sie einfach bei Gelegenheit eine vorbei.« Obasi lächelte mich an und streckte den Arm aus. Wir schüttelten uns die Hand. »Herzlichen Glückwunsch, Felix. Wir sehen uns nächste Woche.«
Ich war glücklich – regelrecht aufgedreht –, als wir wieder in den Bus stiegen. Der August war toll gewesen, aber ich freute mich darauf, wieder unter Gleichaltrigen zu sein, vielleicht sogar einen oder zwei Freunde zu finden.
Astrid startete den Wagen nicht. »Damit wir uns richtig verstehen, Felix. Es ist am besten, wenn du deinen neuen Klassenkameraden nichts davon erzählst.«
»Wie du mich in den Kurs gekriegt hast?«
»Nein. Na schön, ja. Das auch. Aber ebenso über unsere derzeitige Wohnsituation.« Sie deutete auf den Bus. »Du und ich, wir beide wissen, dass es ohne jeden Zweifel vorübergehend ist. Aber andere Leute … verstehen das vielleicht nicht. Wir wollen niemandem Anlass geben, das MKFE anzurufen.«
Ein Kälteschauer durchzuckte mein Herz.
MKFE. Ministerium für Kinder- und Familienentwicklung.
An die waren wir schon mal geraten, im April. Astrid und Abelard hatten in der Nacht zuvor eine ihrer spektakulären Auseinandersetzungen gehabt. Am nächsten Morgen stand ein Sozialarbeiter mit einem Haufen Fragen vor der Tür. Vermutlich hatte unser Vermieter dort angerufen, weil er über uns wohnte. Vielleicht hatte er sich Sorgen gemacht, dass ich körperlich misshandelt wurde. Ich nicht. Abelard hat sich an mir nie vergriffen. Wie dem auch sei. Aus dieser Erfahrung und den Geschichten, die meine Mom mir erzählt hatte, wusste ich, dass man lieber nicht auf dem Radar des MKFE auftauchen sollte. Nicht heute, nicht morgen, nicht in einer Million Jahre. Also sagte ich:
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