Susin Nielsen
Aus dem kanadischen Englisch von Anja Herre
Meinen ersten Roman habe ich Eleanor Nielsen gewidmet, und diesen, meinen sechsten, widme ich ihr ebenfalls. In beiden Büchern geht es um alleinerziehende Mütter von Einzelkindern – genau wie meine Mom und ich. Doch da hören die Übereinstimmungen auch schon auf. Mom, ob du selbst es durchweg so empfunden hast oder nicht, jedenfalls hast du mir immer das Gefühl gegeben, festen Boden unter den Füßen zu haben. Und das tust du bis heute.
(Dieses Bild habe ich im Alter von sechs Jahren gemalt und trotzdem meinen Namen richtig buchstabiert.)
27. November, 00.05 Uhr
Eine kurze Geschichte unserer Wohnsitze
Mormors Haus
Unsere kurze Begegnung mit Hauseigentum
Die Zwei-Zimmer-Mietwohnung
Der Ein-Zimmer-Keller
Westfalia
Soleils Haus
AUGUST
Astrids Ratgeber für Lügen aller Art
Die Unsichtbare Lüge
Die Gib-dem-Frieden-eine-Chance-Lüge
Die Beschönigungslüge
Die Tut-keinem-weh-Lüge
Die Jemand-könnte-ein-Auge-verlieren-Lüge
SEPTEMBER
Frohgemute französische Fakten, Teil 1
Poltergeister: Fakt oder Fiktion?
Alles was man über Asbest und Mesotheliom wissen muss
OKTOBER
»Du denkst, so was wird dir nie passieren«
NOVEMBER
27. November, 4.00 Uhr morgens
Anhang
Danksagung
Quellen
Zur Diskussion
Die Autorin
Mein Bein zuckte. Ich rutschte von einer Pobacke auf die andere. Meine Hände waren feucht und mein Herz raste. »Ich bin noch nie verhört worden.«
»Du wirst nicht verhört, Felix. Wir unterhalten uns bloß.«
»Nehmen Sie das auf?«
»Wieso sollte ich das tun?«
»So machen sie’s im Fernsehen.«
»Wir sind nicht im Fernsehen.«
Die Kühle des Metallstuhls drang durch meine Schlafanzughose. »Gucken Polizisten Polizeiserien?«
»Na klar.«
»Aber bringt man dann nicht irgendwie seine Arbeit mit nach Hause?«
Constable Lee lächelte. Sie hatte sehr gerade Zähne. Mein Super Herausragendes Inspektionstalent , kurz S.H.I.T., sagte mir, dass sie aus einer bürgerlichen Familie stammte, in der man sich einen Kieferorthopäden leisten konnte. S.H.I.T. sagte mir auch, dass ihr das Essen schmeckte: Die Knöpfe an ihrer Uniform waren zum Platzen gespannt. »Nicht unbedingt«, antwortete sie. »Für uns ist das auch eine Ablenkung vom Alltag. Und wir können den Fernseher anbrüllen, wenn sie kompletten Humbug machen.«
»Was zum Beispiel?«
»Zum Beispiel ein solches Gespräch aufzeichnen. Wir nehmen eine Unterredung nur dann auf, wenn jemand wegen eines Verbrechens angeklagt ist oder verdächtigt wird.«
»Nehmen Sie Astrid gerade auf?«
»Das kann ich nicht beantworten.«
O Mann. Ich weine wirklich selten, aber auf einmal war ich kurz davor, in Tränen auszubrechen, vor einer Polizistin. Ich schätze, das fiel ihr auf, denn sie fügte hinzu: »Ich bezweifle es.«
Ich atmete ein. Ich atmete aus. Setzte mich aufrecht hin. Versuchte, ruhig und würdevoll zu wirken, obwohl ich wusste, dass meine blonden Locken in alle Himmelsrichtungen abstanden, denn bis zu dem Zeitpunkt, als plötzlich alles schiefging, war ich im Bett gewesen. Außerdem hatte ich meinen uralten Schlafanzug mit den Minions darauf an, der kindisch und viel zu klein war. Constable Lee und ihr Kollege hatten uns keine Zeit zum Umziehen gelassen. »Ich möchte meinen Anwalt anrufen«, sagte ich.
»Lass mich raten – das hast du auch aus dem Fernsehen.«
»Ja.«
»Hast du einen Anwalt?«
»Nein. Aber laut Gesetz steht mir einer zu, richtig?«
»Abgesehen davon, dass du keinen brauchst. Du hast nichts falsch gemacht.«
»Also kann ich einfach gehen?«
»Ich denke schon. Aber wohin?«
Ich dachte an Dylan. Und Winnie. Dann fiel mir ein, dass ich zu ihnen gesagt hatte, ich wolle sie nie wiedersehen. »Wann sind sie mit Astrid fertig?«
»Ganz sicher bald.« Sie starrte mich an und klickte ihren Kugelschreiber rein, raus, rein, raus.
»Darf ich fragen, warum du sie nicht Mom nennst?«
»Sie findet das zu hierarchisch.« Zum hundertsten Mal schweifte mein Blick prüfend durch den riesigen Raum voller Schreibtische und Menschen. Zum hundertsten Mal konnte ich Astrid nicht entdecken.
Alles wird gut , sendete ich ihr in Gedanken eine Nachricht, weil sie mir immer sagt, sie empfängt alles, was ich ihr schicke. »Fürs Protokoll«, sagte ich zu Constable Lee, »Astrid ist eine tolle Mutter.«
»Gut zu wissen.« Sie tippte auf ihrer Tastatur. »Ich stelle dir jetzt ein paar Fragen, okay?«
»Okay.«
»Fangen wir mit deinem vollständigen Namen an.«
»Felix Fredrik Knutsson.«
Sie tippte. »Alter?«
»Dreizehn. Na ja, fast. Zwölfdreiviertel.«
»Name deiner Mutter?«
»Astrid Anna Knutsson.«
»Adresse?«
Ich guckte auf meine Füße. Ich trug Gummistiefel, keine Socken; mir war keine Zeit geblieben, ein Paar zu suchen.
Constable Lee beugte sich zu mir. Ihre Schultern hingen herab. Sie hatte keine gute Körperhaltung. »Felix, als wir deinen Anruf bekamen, schien es, als würdet ihr beide da wohnen.«
Ach, wie sehr wünschte ich, meine Mom wäre da. Sie hätte eine plausibel klingende Erklärung parat. Aber ich bin nicht wie sie. Ich bin kein geborener Wahrheitsverdreher.
Also guckte ich weiter auf den Boden.
Constable Lee fing an zu tippen, obwohl ich kein Wort gesagt hatte.
»Felix«, sagte sie sanft, »du kannst mir alles sagen …«
»Ich habe Hunger.«
»Natürlich. Ich hätte fragen sollen.« Sie stützte sich zum Aufstehen auf den Schreibtisch und zog ihren Hosenbund hoch. »Ich kann dir was aus dem Automaten holen. Ich hoffe, das ist in Ordnung. Irgendwelche Allergien? Vorlieben?«
»Keine Allergien. Keine Vorlieben. Wobei ich allem mit Käsegeschmack zugeneigt bin.«
Constable Lee lief durch den großen Raum. Ich schaute mich um. Ein paar Polizisten saßen an ihren Schreibtischen. Einer las Technik für jedermann und einer döste.
Ich drehte Constable Lees Computerbildschirm zu mir.
Es war ein offiziell wirkender Bericht.
Name: Felix Fredrik Knutsson
Alter: 12
Elternteil/Vormund: Astrid Anna Knutsson
Adresse: OFW
Ich bin ziemlich gut im Entziffern von Akronymen, und dieses hatte ich, unter den gegebenen Umständen, umgehend raus.
Ohne festen Wohnsitz .
Angst durchfuhr mich. Astrid hatte mich immer wieder gewarnt: »Niemand darf rausfinden, wo wir wohnen.« Bis jetzt hatte ich diese Regel nur ein Mal gebrochen.
Wir waren aufgeflogen. Ich versuchte mir einzureden, dass es nicht meine Schuld war. Ich hatte keine Wahl gehabt; ich musste die Polizei rufen. Wer weiß, was sonst passiert wäre?
Trotzdem. Die miesen Typen waren davongekommen. Und wer saß auf der Polizeiwache? Die unschuldigen Opfer. Wir.
Auf dem Schreibtisch vor mir landeten zwei Tüten Cheezies und eine Dose Cola. »Wir sind wohl ein kleiner Schnüffler«, sagte Constable Lee und drehte den Bildschirm wieder weg.
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