Wir brauchen eine neue Kommunikation über Zukunftsmedizin, die uns inspiriert. Die eine Vision bietet, was für uns als Individuum und als Gesellschaft möglich sein wird, wenn wir neue Technologien in unserem Alltag integrieren. Es hilft dem Fortschritt nicht, bedrohliche Zukunftsszenarien zu zeichnen, die manches mal mehr mit Science Fiction zu tun haben als mit der Realität.
Alles, was wir tun, jede Technik, die wir verwenden, ist – theoretisch – mit Risiken verbunden. Wir wissen alle, dass Häuser einstürzen können, deswegen lassen wir uns jedoch nicht vor Betreten eines Gebäudes vom Baustatiker ein Gutachten über die Statik zeigen. Wir als Fachleute im Bereich Medizin müssen lernen, so über die Neuheiten in unserem Fach zu kommunizieren, dass Patienten ein echtes von einem rein gefühlten Risiko unterscheiden können. Nur so werden wir auf breiter Basis Akzeptanz für das Thema schaffen.
Das betrifft nicht Patienten allein. Ein Vertreter für Medizintechnik erzählte mir neulich, dass einige Ärzte nicht einmal einen Internetanschluss in ihrer Praxis haben aus Angst vor Datenmissbrauch. Viele Ärzte wissen gar nicht, wieviel Zeit und Geld sie sparen können, wenn sie digitale Instrumente nutzen.
Datenschutz ist in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel. Natürlich, Gesundheitsdaten müssen sicher sein. Aber wir müssen Patienten wie Ärzten klar machen, dass Daten nicht nur missbraucht, sondern auch genutzt werden können. Denn wer sie nicht nutzt, kann auch nicht von ihnen profitieren. Meines Erachtens wissen Patienten wie Ärzte bisher viel zu wenig darüber, wie sie von neuen Technologien profitieren können. Wüssten sie dies, würden sie viel häufiger die Entscheidung zugunsten eines medizinischen Produkts stellen. Die Frage nach dem Datenschutz wäre ganz schnell nur noch eine unter vielen. Unser Bundesgesundheitsminister hat den Ausspruch geprägt: „Datenschutz ist etwas für Gesunde.“ (Spahn et al. 2016, S. 25). Auch wenn Datenschützer ihm schnell Zynismus unterstellen, ist da viel Wahres dran. Wenn Sie bewusstlos auf der Straße liegen, ist Ihnen der Datenschutz egal. Dann wollen Sie die bestmögliche medizinische Behandlung. Mit einer Elektronischen Patientenakte, in der aktuelle Medikamente, Werte, Untersuchungen und Erkrankungen aufgeführt sind, könnte ein Notarzt Sie im akuten Fall deutlich sicherer behandeln als heute.
Die Begeisterung für Technik kommt nicht von allein.
Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Die eingangs zitierte Studie sah interessanterweise als einen der Gründe für das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der Digitalisierung die Einstellung der Deutschen an. Eine alternde und immer älter werdende Gesellschaft richtet natürlicherweise den Fokus auf die Bestandswahrung und weniger auf die Gestaltung der Zukunft (vgl. Steingarts Morning Briefing). Gesellschaften wie unsere reagieren auf Veränderungen typischerweise in der Reihenfolge der drei A’s: Angst, Ablehnung, Adaption. Wir sehen, dass es ein weiter Weg ist, bis das Neue im Alltag ankommt. In einer Zeit, in der Fortschritt exponentiell verläuft, kommt die Adaption in diesem Modell hoffnungslos zu spät.
7.4Nicht bloß Wissen vermitteln, sondern Begeisterung
Für uns als Fachleute ist es wichtig, um diese Grundvoraussetzung zu wissen, wenn wir Neues kommunizieren. Wenn wir eine Neuerung vorstellen und als erstes über Dinge sprechen, die diese Ängste und Ablehnung weiter verstärken – wie zum Beispiel über die theoretische Möglichkeit eines Datenmissbrauchs – werden Patienten schwerlich bereit sein, überhaupt etwas auszuprobieren. Dieses Ausprobieren, neugierig sein, sich einlassen ist jedoch essenziell, um Entwicklungen voranzutreiben. Medizin der Zukunft lebt zumindest zum Teil davon, dass wir als Ärzte und Patienten uns als „User“ verstehen. Natürlich sind auch digitale Medizinprodukte mit validen Studien hinterlegt. Aber im Alltag leben sie wie alle digitalen Devices davon, dass sie im Gebrauch weiterentwickelt werden. Hersteller sind auf unsere Rückmeldungen angewiesen. Was wir nicht nutzen, verschwindet wieder vom Markt. Fortschritt verläuft in diesem Sinne streng demokratisch. Deswegen ist es so wichtig, dass wir als Experten in der Medizin lernen, so über unser Fach zu sprechen, dass wir Menschen inspirieren. Sie mitnehmen auf die Reise in die Zukunftsmedizin.
Wir müssen lernen Geschichten zu erzählen, die inspirieren und neugierig machen, die noch nicht dagewesene neue Möglichkeiten aufzeigen. Dabei ist es wichtig, immer so konkret wie möglich zu sein. Welchen Nutzen haben Patienten konkret, wenn Sie medizinische Apps verwenden? Warum bedeutet Künstliche Intelligenz im Altenheim nicht, dass dort Roboter Pflegende ersetzen, sondern dass die Pflegerin endlich wieder Zeit für einen Spaziergang mit den Bewohnern hat? Wir brauchen Fortbildungen für Ärzte, damit sie wissen, wie sie digitale Medizin für sich nutzen können und die Vorteile ihren Patienten vermitteln. Zu unseren „New Skills“ muss es gehören, in verständlicher Sprache darüber zu sprechen, wie Patienten und Ärzte profitieren, wenn sie mit uns einen Schritt in die Zukunft gehen.
European Center for Digital Competitiveness (Hrsg.) (2020) Digital Riser Report 2020. ESPC Business School Berlin
Institut für Demoskopie Allensbach (2019) „KI und Popkultur“
Körbel A (2020) Mehr Zeit für Menschlichkeit, Brand Eins, 07/20, S. 60f.
Krüger-Brand HE (2019) Digitale Medizin: Antworten auf Zukunftsfragen finden. Deutsches Ärzteblatt 116(43)
Spahn J, Müschenich M, Debatin JF (2016) App vom Arzt. Bessere Gesundheit durch digitale Medizin. Herder Freiburg
Steingarts Morning Briefing, 8. September 2020
Gerd Wirtz hat sich mit Leib und Seele der Vermittlung von medizinischem Wissen verschrieben. Der promovierte Neurophysiologe steht seit mehr als 20 Jahren immer dann auf der Bühne, wenn anspruchsvolle Inhalte anschaulich und verständlich verpackt werden sollen. Er wirkt als Moderator und Keynote Speaker auf wissenschaftlichen Kongressen und Fachtagungen. Seine besondere Leidenschaft ist die Digitale Medizin. In seinen Vorträgen und Veröffentlichungen bringt er den Menschen die Chancen der Zukunftsmedizin näher.
8 Intuition Peter Simon Fenkart
Die Universalgelehrte Hildegard von Bingen lebte im zwölften Jahrhundert. Mit dem Werk „Causae et curae“ (Ursachen und Behandlungen) (1957), das ihr zugeschrieben wird, setzte sie wissenschaftliche Zeichen. Sie trug das damalige Wissen der Heilkunde zusammen und interpretierte es in einer Weise, die Zeitgenossen als stimmig, nachvollziehbar und praktikabel erschien. Etwas, was gute Wissenschaft auch heute noch leistet, dort, wo sie sich als nutzbar erweisen möchte. Hildegard von Bingen ist bis in die heutige Zeit bekannt, in unserem digitalen Zeitalter. Vielleicht auch deshalb, weil ihre Lehre Elemente enthält, mit denen sich unsere moderne Heilkunde schwertut. Im vorliegenden Beitrag geht es um eine Komponente, die sich gerade in der Zeit der Digital Skills als entscheidend erweisen könnte. Aber kann es wirklich sein, dass unser modernes Gesundheitswesen von Ansichten profitieren kann, die vielfach als längst überholt gelten?
Hildegard von Bingens Werk trug mit dazu bei, dass beispielsweise die Kräuterheilkunde große Anwendung und Verbreitung fand, lange bevor die chemische Analyse von Pflanzenwirkstoffen zur heutigen Pharmazie beitrug. Soweit unbestritten. Interessant im vorliegenden Zusammenhang ist die Methode, mit der damals Erkenntnisse zu Wirksamkeit und Anwendung gewonnen wurden. Klinische Tests mit tausenden Probanden? Doppelblindstudien und Metaanalysen? Keinesfalls – „Überlieferung“, so lautet ein Erklärungsversuch. Doch das ist keine zulässige Methode um Erkenntnisse zu gewinnen, denn irgendwie musste das Wissen ursprünglich geerntet werden.
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