B:Die ersten großen politischen Diskussionen meines Lebens hatte ich so mit 16, 17 unter Freunden. Die Frage auf dem Land, als die FPÖ groß wurde, war damals: Geht man zum Bundesheer oder nicht. Du bist ein Vaterlandsverräter, und wenn jemand deine Mutter oder Tochter vergewaltigen will, würdest du dann nicht mit der Waffe in der Hand … Das waren damals Diskussionen, die waren ernst, die waren unversöhnlich.
E:Der Unterschied ist vielleicht, dass man in dieser medialen Diskussion fast alle Schranken fallen lässt. Was macht man dann mit Menschen im persönlichen Umfeld, die, wenn man sich die Bemerkungen wegdenkt, eigentlich ganz nett sind?
P:Da ist es doch durchaus möglich, einen Nachmittag zu verbringen.
E:Es gibt immer noch einen ganz massiven Unterschied zwischen diesem online-Gezanke und dem persönlichen Kontakt. In dem Augenblick, wo du einem Menschen gegenüberstehst, würde ich sogar behaupten, dass man sich heute in den Diskussionen weniger den Schädel einschlägt, sondern lieber sagt: Dann gehen wir auf keinen Kaffee mehr.
K:Wir werden aber in jedem Fall weiterhin miteinander auf einen Kaffee gehen. Danke, dass Ihr Euch Zeit genommen habt.
VEA KAISER, geboren 1988 in St. Pölten, studierte Klassische Philologie (Schwerpunkt Altgriechische Dichtung) und veröffentlichte bisher drei Romane, zuletzt: Rückwärtswalzer oder Die Manen der Familie Prischinger (2019).
www.veakaiser.de
CLEMENS BERGER, geboren 1979 in Güssing, studierte Philosophie und Publizistik. Er veröffentlichte zahlreiche Erzählungsbände, Essays, Theaterstücke und sechs Romane, kürzlich erschien sein Roman Der Präsident (2020).
www.clemensberger.at
MARS ELSBERG, geboren 1967 in Wien, zählt seit seinem 2012 erschienen Thriller Blackout. Morgen ist es zu spät zu den meist verkauften deutschsprachigen Autoren. Zuletzt erschien der Thriller Gier – Wie weit würdest du gehen? (2019).
www.marcelsberg.com
URSULA POZNANSKI, geboren 1968 in Wien, schrieb zahlreiche Kinder- und Jugendbücher, die bei den Leser *innen euphorische Begeisterung auslösen. Zuletzt erschienen der Thriller Vanitas. Grau wie Asche und die Dystopie Cryptos (2020).
www.ursula-poznanski.de
JAN WAGNER
de vita caroli quarti
»Herr, steht auf, der jüngste Tag bricht an, denn die ganze Welt ist voller Heuschrecken!«
wir ritten bis nach pulkau, um das ende
der welt nicht zu verpassen, und schon mittags
fiel nacht auf uns herab – als würde
alles was ist in einen sack gesteckt,
verschnürt. von fernher drang das fiepen
der glocken aus den dörfern zu uns durch.
ein lärm, der jedes selbstgespräch
erstickte, jedes stoßgebet, ein tosen,
ein schwarzer schneesturm, selbst als schon ein teil
gelandet war (wenngleich der himmel
nicht wiederkehrte) – wie das kratzen
von tausenden von federn auf papier,
ein rasendes skriptorium. die pferde,
bis zu den knien in insekten, wiehernd,
und diese selbst ein staunenswertes uhrwerk
dem hunger, eine gierige mechanik.
wir standen ratlos da,
jeder von uns geplündert wie ein rom.
ob da noch vögel waren? keine vögel,
kaum licht. und jedes schwein und jeder köter,
der sie zu fressen wagte, in sich aufnahm,
krepierte binnen stunden.
drei jahre wird es gehen.
drei jahre mit dem krachenden harsch
von flügeln unter den füßen und von panzern,
die ganze schöpfung gegen uns gerüstet,
ein lebendes kettenhemd auf jedem
feld, herr. sie vermehren sich des nachts
wie dunkle wünsche, unnatürliche
gedanken; wir erheben uns am morgen,
kahl wie die erde, wie geschändet, herr.
JAN WAGNER, geboren 1971 in Hamburg, studierte Anglistik in Hamburg, Dublin und Berlin. Sein erster Gedichtband erschien 2001. Im gleichen Jahr wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet. Für seinen Gedichtband Regentonnenvariationen wurde er mit dem Preis der Leipziger Buch messe (2015) geehrt. Mit dem Büchner-Preis 2017 erhielt der Essayist, Herausgeber, Übersetzer und Lyriker Jan Wagner die angesehenste Auszeichnung der deutschsprachigen Literatur. 2018 erschien von ihm Die Live Butterfly Show . Zusammen mit Tristan Marquardt publizierte er die Minnesang-Anthologie Unmögliche Liebe (2017), zusammen mit Federico Italiano die Anthologie Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas (2019). Seit 1995 lebt Jan Wagner in Berlin.
www.jan-wagner-lyrik.de
BERNHARD PÖRKSEN
Zivilisationstest
Die Corona-Krise liefert Antworten auf die Zukunftsfrage der Menschheit: Wie lernen Kulturen? Ein Essay *
Was geschieht eigentlich gerade, jetzt, im Moment einer vor sich hin rasenden Gegenwart? Wie ist die Stimmung, das Lebensgefühl? Vor einigen Jahren schrieb die Journalistin Iris Radisch über den Schriftsteller Walter Kempowski einen bemerkenswerten Essay, der geeignet ist, die aktuelle Situation schlagartig zu erhellen. »Walter Kempowski saß 1948 hungrig und beschmutzt in einem Güterwaggon, der ihn, von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, nach Bautzen bringen sollte«, so war hier zu lesen. »Bei einem Halt beobachtet er durch eine Ritze im Bretterverschlag ein spazierendes Ehepaar, sie im Blümchenkleid, er in Knickerbockern, sorglos im Sonnenschein. Das hat ihm den Schock von der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren versetzt. Wie viel Glück und Unglück, Harmloses und Tragisches, Lebensbedrohendes und Idyllisches stapeln sich in jeder Weltsekunde aufeinander!«
Diesen Schock von der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren erleben wir heute. Alles ist gleichzeitig sichtbar, rivalisiert auf ein und demselben Kommunikations kanal. Die seriöse Information in Form der täglichen Drosten-Dosis. Die irrwitzige Verschwörungstheorie. Die bemühte Positiv-Meldung. Die Horrorgeschichte von den reichen Russen, die ihren Landsleuten prophylaktisch und ohne Not die Beatmungsgeräte wegkaufen. Bilder ignoranter Sorglosigkeit von einer Corona-Party mit herum albernden Schülern. Die Drohkurve der aktuellen Infektionsraten. Der 1000. Infizierte hier, der erste Todesfall dort … Und man hört, kaum ist man für einen Moment offline und das Fenster auf, die Vögel, die vor sich hin zwitschern, als wäre nichts geschehen. Wir sind, weltweit vernetzt und verbunden, in ein Universum greller Kontraste hinein gestürzt. Alles könnte jetzt passieren, so scheint es. – Und regiert nicht längst eine Expertokratie von Virologen? Driften wir in einem Ausnahmezustand ohne klar fixierbaren Endpunkt? Ist die Zeit einer westlichen Arroganz vorbei, weil asiatische Diktaturen (China) und Demokratien (Taiwan, Südkorea) vorführen, wie effektiv sich mit Hilfe des Einsatzes moderner Tracking- und Test-Technologien eine Pandemie bekämpfen lässt? Ist Europa gescheitert, weil die Grenzen längst dicht sind und sich ein Viktor Orban endgültig als Autokrat entpuppt? Die Antwort lautet, dass sich die Zukunftsgewissheit ganzer Gesellschaften über Nacht aufgelöst hat. Wir erleben im Großen wie im Kleinen in der Corona-Krise ein existenzielles Sozialexperiment und einen Systemwettkampf, ein Ringen um Menschenbilder, Mündigkeitsideale und Weltanschauungen im Spannungsfeld von nationalem Egoismus und globaler Solidarität, von Freiheit und Sicherheit, von humaner Orientierung, ökonomischer Vernunft und kalt kalkulierendem Nützlichkeitsdenken. Dieser Systemwettkampf wird eines Tages, wenn die Pandemie eingedämmt ist, aber Teile der Weltwirtschaft womöglich in Trümmern liegen, empirisch entscheidbar sein. Kurzum: Es ist ein Zivilisationstest, der liberale Demokratien derzeit im Innersten erschüttert. Und der die vielen Einzelnen, aus denen eine Gesellschaft besteht, herausfordert. – Wessen Geschichte zählt, welche wird bleiben? Die des Hausbesitzers aus dem Saarland, der anbietet, im Falle von Einkommensverlusten auf ein paar Monatsmieten zu verzichten und der die Briefe mit diesem Angebot unter den Türen seiner Mieter hindurch schiebt? Oder der Bericht über den Diebstahl von Desinfektionsmitteln und Atemschutzmasken aus einer Kinderkrebsstation in Berlin? Was ist von all dem, was sich an Schönheit und Schrecken offenbart, repräsentativ?
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