Falsch. Russell hat es schon viele Male bewiesen. Er, der gut Organisierte, hat – zusammen mit seinen Sherpas – schon oft Menschen über 8000 Metern geholfen, lebend runterzukommen, hat dabei sogar Sauerstoffflaschen verschenkt. Eine Flasche kostet, bis sie oben am Berg ist, gut und gern 500 Dollar. Das Zehnfache eines verlängerten Visums also.
Als wir den Rest der Whisky-Flasche verteilen, sagt Russell: »Der Versuchung des Gipfels nicht widerstehen zu können, das ist der größte Fehler, den man machen kann.« Wir alle wissen, wovon er spricht: Gipfelfieber. Wer nicht Punkt zwölf Uhr ganz oben steht – und ganz oben heißt ganz oben –, muss umkehren. Auch dann, wenn das Ziel in schier greifbarer Nähe liegt und ein Abstieg in die Sicherheit sehr viel mehr Willenskraft braucht als ein ehrgeiziges Weitergehen. Wer dieses Gesetz nicht respektiert, nimmt den Tod in Kauf. Einer von uns, aber das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, würde der Versuchung nicht widerstehen können.
Als wir uns eine gute Nacht wünschen, bin ich sehr nachdenklich, aber auch sehr glücklich. Unsere Gemeinschaft hier ist schön. Mir wird einmal mehr bewusst, dass ich die Einsamkeit nur deshalb so liebe, weil ich jederzeit in eine Gemeinschaft zurückkehren kann.
Als ich ins Zelt komme und meinen Wecker stelle, sehe ich, wie spät es geworden ist. Mir bleiben noch zweieinhalb Stunden Schlaf, bevor ich mit Robert einen Vorstoß auf 6350 Meter machen werde, um unsere Körper weiter zu akklimatisieren.
Als ich aufstehe, hat Robert schon längst seinen dritten Kaffee getrunken und ist voller Tatendrang. Er ist unheimlich schnell unterwegs. Ich stapfe ihm nach. Ich habe Kopfschmerzen. Von der Höhe. Vielleicht. Oder aber vom Kater. Egal. Ich muss da jetzt einfach durch. Wenn du saufen kannst, Evelyne, sage ich mir, dann kannst du auch laufen. Es ist sehr kalt, der Wind bläst, ich will nur eines, zurück in mein Zelt, aber mein Kopf ist stärker, er setzt sich durch. »Zwängigrind«, so hat mich mein Vater oft genannt. Und es ist gut, dass ich weitergehe, denn zum ersten Mal wird mir bewusst, dass es hier weder Raum noch Zeit zu geben scheint, dass sich Distanzen kaum mehr messen lassen, weder in Metern noch in Minuten. Das Gefühl von »bald bist du oben« habe ich an diesem Tag x-mal, nur um feststellen zu müssen, dass das, was gerade noch so nah schien, im nächsten Moment unendlich weit weg ist.
Der Mount Everest setzt andere Maßstäbe. Er täuscht einen. Ich beginne, ein neues Gefühl für Zeit zu entwickeln. Es gibt kein Vorher und kein Nachher, es gibt nur ein Jetzt. Atemzug um Atemzug, Schritt für Schritt. Jetzt. Die Yak-Männer kennen keine Uhren und keine Agenden. Wenn Russell dieses Jahr wieder abreist, wird er mit Karsang denselben Treffpunkt ausmachen wie jedes Jahr. Er wird sagen, ich bin in genau einem Jahr wieder da, warte an der Straße auf mich. Und Karsang wird – ohne zu wissen, welches Datum wir an diesem Tag schreiben – an der Straße stehen und warten. Auf den Tag genau.
Als ich erschöpft und durchfroren ins Basislager zurückkomme, gehe ich geradewegs ins Kochzelt, um zu trinken und auf das Essen zu warten. Ich bin froh, wieder im Lager zu sein, aber glücklich, 6350 Meter erreicht und meinen inneren Schweinehund überwunden zu haben.
Von nun an mache ich alle zwei Tage eine große Tour. Ein Tag Anstrengung, um schneller zu akklimatisieren, ein Tag Pause, um den Körper regenerieren zu lassen. So sieht mein Rhythmus aus.
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