Das Beispiel eines völlig sinnentleerten Redens, gleichsam eine Parodie auf gelehrtes Buchwissen, stellt Allegros Selbstbekenntnis dar: „ich habe geredt ich weiß selber nicht / was es heist“ (S. 37). Sein lateinisches Kauderwelsch trägt maßgeblich dazu bei, diese Figur, die im Personenverzeichnis als der kurzweilige Diener des Vizekönigs vorgestellt wird, als Narren zu begreifen. WeiseWeise, Christian verstärkt dieses Moment der Narrheit noch dadurch, dass er Allegro, der erkennt: „Nun bin ich der Narr allein“ (S. 54), kleine Narren als stumme Figuren beiordnet, die diesen durch das Stück begleiten (vgl. etwa S. 55 u. S. 115). Und man kann sich durchaus fragen, ob in dieser Figur nicht etwas Simplicianisches fortlebt. Allegro ist natürlich auch ein sprechender Name, der das Bewegte, Lebhafte und Heitere im Sinne musikalischer Tempobezeichnung betont. Durch ihn kommt ein beschleunigendes Element in den Text, das zugleich die Gattungsgrenzen zwischen Tragödie und Komödie aufweicht. Allegro wird zum Grenzgänger zwischen Komischem und Tragischem, ohne selbst nur komisch oder nur tragisch zu sein. Weise begeht damit einen poetologischen Tabubruch. In der Figur des Allegro übertritt er wohl am radikalsten die Grenzen einer normativen Gattungstrennung. Denn in der barocken Tragödiebarockes Trauerspiel ist kein Platz für einen solchen Narren. Von hier nehmen auch Überlegungen ihren Ausgang, Weises MasanielloMasaniello als deutschen Prototyp des Mischspiels TragikomödieTragikomödie zu verstehen. Dies macht dann Sinn, wenn man Weises Tragikomödie so begreift, dass durch die komische Figur stets Tragisches bei anderen verursacht wird, Komik also Tragik bedingt.20 Die komische Figur selbst bleibt komisch.
Die meisten komischen Handlungs-, Figuren- und Redeelemente in Weises Stück stammen aus der Tradition der italienischen Commedia dell’arte, denn schließlich spielt das Stück auch in Italien. Hierzu zählt unter anderem die komische Szene zwischen Buffone und Masaniello in der neunten Szene des vierten Akts, in der auf den „aus der Commedia dell’arte bekannten Lazzo der Furcht“21 angespielt wird. „Die lazzi sind Kristallisationspunkte der körperlichen ‚Beredsamkeit‘ des Schauspielers, bereitstehende Formen, denen Geschehen und Situation nur als Anlaß, als Vorwand dienen. Im Gefüge der KomödieKomödie erscheinen sie am Abschluß bzw. innerhalb der Situationen als Zellen der Improvisation“22. Im fünften Akt erscheint Allegro über mehrere Szenen hinweg als ein Papagei und sitzt gefangen in einem Vogelbauer. Auch dieses Motiv mag WeiseWeise, Christian der italienischen Tradition entlehnt haben, tritt doch in der Commedia dell’arte der Harlekin mit Papageienstimme auf. Schließlich weist auch Allegros Kostümwechsel (Allegro trägt Frauenkleider, vgl. S. 147) und Gestaltwechsel auf diese Tradition hin. Daneben kann aber auch der Einfluss der englischen und deutschen Wanderbühnen geltend gemacht werden, wenn etwa Allegro als ein „ leibhafftiger Pickelhering “ (S. 97, Regieanweisung) erscheint.23 Weise nimmt also höchst verschiedene und unterschiedliche Theatertraditionen in seinem Stück auf und nutzt sie dramaturgisch zur Entfaltung des Komischen im Tragischen.
Auch das Stück selbst gibt Anhaltspunkte für die Grenzgänge zwischen den Gattungen KomödieKomödie und TragödieTragödie. So wird etwa die wehklagende Interjektion ach im Laufe des Stücks insgesamt 160-mal24 ausgerufen. Durch diese übertrieben häufige Nennung wandelt sich der tragische Schreckensruf fast selbst schon zu einem komischen Signalwort. Bei allen diesen Argumenten für einen absichtsvollen Gattungswechsel darf freilich nicht übersehen werden, dass Weise selbst sein Drama Trauerspiel nennt und die Gattungsdiskussion dadurch an Brisanz verliert. Im Titel findet sich dies nur auf dem Titelblatt des gleichzeitig zum Erstdruck erschienenen Einzeldrucks Trauer-Spiel | Von dem | Neapolitanischen | Haupt-Rebellen | MASANI- | ELLO, | præsentiret in Zittau / | Den 11. Febr. M DC LXXXII. Und auch in der Leseranrede spricht Weise selbst von der „Tragœdie vom Masaniello“ (S. 9).
Masaniellos Forderung an Roderigo ist eindeutig. Er verlangt von den Beamten des Vizekönigs, dass die Menschen als „Buͤrger und nicht als Hunde“ (S. 41) behandelt werden. Die alte Ordnung, die in der Zollfrage den Bürgern ein Privilegium zusicherte, soll wiederhergestellt werden. Masaniello tritt also zunächst, d.h. aus der Perspektive des Textes gesehen, mit einer berechtigten Forderung auf. Die Wiederherstellung der alten Verhältnisse bedeutet für ihn, die „alte Freyheit“ (S. 58) wiederzuerlangen. Doch bereits im zweiten Akt wird Masaniello als ein Mensch vorgestellt, dessen Ansichten über Recht und Gerechtigkeit höchst eigenwillig sind. In der 12. Szene entwickelt WeiseWeise, Christian förmlich eine GerichtssatireGerichtssatire. Masaniello und die anderen Anführer der Aufständischen sprechen Recht über Kavaliersdelikte. Die Drastik der Bestrafung – am Ende erfolgt jeweils die Tötung des Delinquenten – steht in keinem Verhältnis zum Vergehen. Einzig Allegro entgeht der Todesstrafe, seine gewitzte Antwort auf Masaniellos Befragung erhält ihn am Leben. Weise lässt also von Beginn an keinen Zweifel, wie er Masaniello charakterisiert wissen will. Er ist nicht der für Freiheit und gegen Unterdrückung kämpfende Sozialrebell. Zweifel sind deshalb erlaubt, wenn davon gesprochen wird, Weise zeichne die Figur des Masaniello mit Sympathie, gar als positiven Helden, der nach ethischen Grundsätzen handle.25 Einen Fischer zur Hauptfigur eines barocken Dramas zu machen, verstößt zwar gegen die Norm barocker Poetik, in der TragödieTragödie die FallhöheFallhöhe zur Geltung zu bringen. Nur hochgestellte Persönlichkeiten aus Kirche und Adel wären demnach in der Lage, exemplarisch das unverschuldete tragische Geschehen vor Augen zu stellen. Doch ist die Aufhebung der Ständeklausel im protestantischen Schuldramaprotestantisches Schuldrama gang und gäbe.26 Insofern greifen jene Deutungen zu kurz, die außer Acht lassen, dass Masaniello nicht erst im Verlauf des Stücks ungerecht und maßlos wird, sondern dies von Anfang an schon ist.
Im dritten Akt wird das Komplott gegen Masaniello ins Werk gesetzt. Antimo und weitere Banditen sind von den Adligen gedungen. „Der rasende Fischer-Knecht muß uͤber den Hauffen geschossen werden“ (S. 89), heißt ihr Auftrag. Unter dem Schutz des Kardinals und neapolitanischen Erzbischofs Philomarini wird der Wortlaut des Privilegiums verlesen (vgl. S. 95). Die Revolutionäre scheinen an ihrem Ziel zu sein. In diesem Augenblick beginnen die Banditen auf Masaniello zu schießen, und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Ein versöhnliches, friedfertiges Ende ist von nun an ausgeschlossen.27 Bravo, ein Mitstreiter Masaniellos, rechtfertigt Gewalt und Gegengewalt mit den Worten: „Der Todschlag ist ehrlich / welcher dem Volcke zum besten geschiehet“ (S. 107).
Nach dem gescheiterten Anschlag erlässt Masaniello am Ende von III/17 den Befehl, dass Männer und Frauen ohne Ansehung des Standes keine langen Kleider mehr tragen dürfen, aus Angst, dass sich darunter Waffen verbergen ließen. Selbst Geistliche sind davon nicht ausgenommen. Laura, eine Bürgersfrau, kommentiert dies euphorisch: „Kurtze Roͤcke und keine Contribution, das ist unsere Losung“ (S. 130).28 Wenn Masaniello also nun schon wahnsinnig wäre, so hätte der Wahn zwischen dem Anschlag (vgl. III/6) und diesem Befehl (vgl. III/17) von ihm Besitz ergreifen müssen. Doch der Text bietet dafür keine Anhaltspunkte, denn Masaniello tritt in den dazwischen liegenden Szenen nicht auf. Dies verstärkt natürlich die Dringlichkeit der Frage, ob Masaniello in III/17 nun schon wahnsinnig oder schlicht komisch ist. Vor den Augen des Publikums wird dem Herzog Caraffa in III/18 von Masaniellos Schwager Formaggio mit einem Messer der Kopf vom Rumpf getrennt. Wie kommt es zu diesem Umschlag von politischer Forderung zum Wahn, wenn es denn Wahn ist?
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