„In den Tagen der Götter
geschah uns die Liebe.
Sie ging mit uns kämpfen –
Sie ging mit uns leiden –
Wo ließen wir sie –?“59
Als Ergänzung zu Csokors Medea postbellica lässt sich die Rede der Kindesmörderin vor dem WeltgerichtRede der Kindesmörderin vor dem Weltgericht von Paul LeppinLeppin, Paul (1878–1945) lesen. Leppin gehört zu jenen, heute vergessenen Autoren der Prager Literatur, über die KafkaKafka, Franz als die Vertreter einer kleinen Literatur geschrieben hat. Die Rede der Kindesmörderin vor dem Weltgericht erschien 1928 in dem Prager Verlag Die Bücherstube. 1998 wurde sie in einer Auflage von nur 100 Exemplaren im Berliner Verlag Peter Ludewig nachgedruckt. Leppins Rede der Kindesmörderin vor dem Weltgericht ist ein expressionistischerExpressionismus Prosatext, eine Art Traumnovelle, an deren Ende die männliche Hauptfigur Klaudius aus einem Schuldtraum erwacht.
TEIL 2 KATHARSIS – PHILOLOGIE ALS WIRKUNGSGESCHICHTE
LITERATUR UND GATTUNGSGESCHICHTE
Christian Weise Masaniello (1683)
Christian WeiseWeise, Christian, der auch unter den Pseudonymen Siegmund Gleichviel und Catharinus Civilis veröffentlichte, wurde 1642 in Zittau geboren und starb ebendort im Jahr 1708.1 Gelegentlich wird Weise mit dem Anakreontiker und Verfasser von Kinderbüchern und Singspielen Christian Felix WeißeWeiße, Christian Felix oder Weisse (1726–1804) verwechselt. Christian Weise war entsprechend dem Ideal der polyhistorischen Gelehrsamkeit ausgesprochen produktiv. 167 Einzeldrucke lassen sich heute noch nachweisen. Schon während seines Leipziger Theologiestudiums betätigte sich Weise als Gelegenheitsdichter, so etwa mit Der grünen Jugend uberflüssige GedanckenDer grünen Jugend uberflüssige Gedancken (Amsterdam 1668). Er dichtete protestantische KirchenliederKirchenlied und machte sich als Romancier einen Namen. Als Sekretär und als Hofmeister lernte er an unterschiedlichen Höfen Lebensformen und Denkgewohnheiten der Vertreter eines höfischen Absolutismus kennen. Seit 1668 war Weise als Rektor am protestantischen Gymnasium seiner Heimatstadt Zittau tätig. In annähernd 60 Theaterstücken – neben dem MasanielloMasaniello ist das bekannteste der Baurische MachiavellusBaurischer Machiavellus (1679) – und Lehrbüchern in deutscher und lateinischer Sprache entwickelte Weise eine Verhaltenslehre, die er seine Schüler durch die sogenannte schöne Literatur praktisch einüben ließ.
Weises zentraler Begriff des Politischen bemüht sich um eine Balance zwischen der Bewahrung des Gemeinwohls und einem Privatglück, also zwischen gesellschaftlicher Prosperität, die allen nützt, und individuellem Interesse, das dem Gemeinwohl nicht schaden darf. Diese Reflexion auf den Begriff des Politischen ist bei Weise im Zusammenhang der Konstituierung dessen zu sehen, was in der Forschung als der Beginn der Ausbildung bürgerlicher Privatheit in Abgrenzung zur höfisch-repräsentativen Öffentlichkeit verstanden wird.2 Unverzichtbar ist dabei die Beherrschung der entsprechenden Kommunikationsformen, und dies erklärt die eminente Bedeutung, die der Rhetorik bei WeiseWeise, Christian zukommt. Weises politische Methode, wie er sie selbst nennt und die gleichermaßen höfische Reden und bürgerliche Reden meint, ist demzufolge „zentriert in der effektiven Anwendung des iudicium , also der richtigen Einschätzung der subjektiven und objektiven Bedingungen der Redesituation durch den Sprecher“3. Jährlich hatten seine Schüler eine lockere Trilogie aufzuführen: ein Drama, das einen biblischen Stoff zum Inhalt hatte, ein Historienstück und ein Lustspiel. Das protestantische Schuldramaprotestantisches Schuldrama erfährt im Schaffen Weises zweifelsohne einen Höhepunkt.
Weise gilt in der Literaturgeschichte als ein Autor des Übergangs zwischen SpätbarockSpätbarock und FrühaufklärungFrühaufklärung. Dieser Übergangscharakter ist in besonderer Weise seinem Drama MasanielloMasaniello eigen, er macht es, historisch gesehen, so ausgesprochen interessant.4 Lange Zeit galt Weise als das barocke Gegenbild zur schwülstigen Literatur eines LohensteinLohenstein, Daniel Caspar von und HoffmannswaldauHoffmannswaldau, Christian Hoffmann von. Erst seit den 1970er-Jahren beginnt sich ein differenzierteres Bild von Weise und seinem Werk durchzusetzen. Die maßgebliche Grundlage hierzu schuf die seit 1971 erscheinende Kritische Weise-Ausgabe der Sämtlichen Werke .
Christian Weise greift mit seinem Drama Masaniello auf ein historisches Ereignis zurück, den neapolitanischen Aufstand der Unterprivilegierten von 1647, die sich unter der Führung des Fischers Tommaso AnielloAniello, Tommaso gegen Abgabenwillkür und steuerliche Pressionen zur Wehr setzten.5 Aniello wurde 1620 geboren und starb 27-jährig als Anführer (‚generalissimo‘) der Aufständischen infolge einer Verschwörung. Dieser historische Bezug wirft die Frage nach WeisesWeise, Christian Quellen ebenso auf wie die nach Weises Verständnis von Geschichte und der Rolle des GeschichtsdramasGeschichtsdrama.
Zunächst zu seinen Quellen, die exakt rekonstruiert wurden6: Alessandro GiraffiGiraffi, Alessandro verfasste wenige Monate nach dem Aufstand in Neapel vom Juli 1647 die Chronik Le rivoluzioni di NapoliLe rivoluzioni di Napoli . Von Johann Georg SchlederSchleder, Johann Georg wurde diese Schrift in sein Theatrum EuropaeumTheatrum Europaeum (1663) in einer wortgetreuen Übersetzung übernommen.7 Weise bezog seine Kenntnisse über den Aufstand und dessen Hauptfigur Masaniello aus Schleders Theatrum Europaeum , unter anderem benutzte er es auch im Schulunterricht in Zittau.8 35 Jahre nach dem Aufstand schrieb Weise sein Drama. Alessandro Giraffis Bericht über den Aufstand ist nicht frei von Parteilichkeit, so verherrlicht er den Kardinal Ascanio Filomarino, er denunziert Vizekönig und Adel und er versucht gegenüber Masaniellos politischem Handeln Neutralität zu bewahren.9 Doch von dieser politischen Bewertung des Geschichtsschreibers übernimmt der Dichter Weise nichts. Sehr differenziert hebt er schon in der Leseranrede zum Masaniello die unterschiedliche Vorgehensweise von Historiker und Poet hervor und reklamiert für sich ausdrücklich die poetische Freiheitpoetische Freiheit, sich nicht um historische Genauigkeit bemühen zu müssen. Man dürfe sich als Leser nicht ärgern, betont er,
„wenn der Historie dergleichen Umstaͤnde angedichtet werden / welche sich weder aus der Bibel / noch aus andern Buͤchern koͤnnen beweisen lassen. […] Doch die Freyheit eines Gedichtes bringet es so mit / daß man das jenige nach Gefallen suppliret, welches bey dem Geschichtsschreiber / als unnoͤthig ausgelassen worden. […] Also / was moͤglich ist / und was ohne scheinbare Absurditaͤt haͤtte darbey geschehen koͤnnen / das mag man ungehindert einmischen / oder man muͤste solche Historien gar liegen lassen.“ (S. 9)10
Über den Masaniello sei indes so viel von „Historici“ (S. 9) geschrieben worden, dass man als Dichter sich schwer tue, etwas hinzuzufügen oder wegzulassen. Doch WeiseWeise, Christian löst dieses Problem elegant. Dichten heißt für ihn, „aus nichts etwas machen können“ (S. 9), womit er seinen freien Umgang mit dem historischen Stoff rechtfertigt. Weise befolgt damit konsequent die sich von AristotelesAristoteles herleitende Unterscheidung zwischen DichterDichter und GeschichtsschreiberGeschichtsschreiber. In dessen Poetik heißt es im neunten Kapitel, es sei nicht Aufgabe des Dichters „mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich […] dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte“11.
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