„Nur er ist da, er in der weiten Welt
Und alles andre nichts als Stoff zu Taten.
Voll Selbstheit, nicht des Nutzens, doch des Sinns,
Spielt er mit seinem und der andern Glück.
Lockt's ihn nach Ruhm so schlägt er einen tot,
Will er ein Weib, so holt er eine sich
Was auch darüber bricht, was kümmert's ihn!
Er tut nur Recht, doch recht ist was er will.
Du kennst ihn nicht, ich aber kenn ihn ganz
Und denk ich an die Dinge, die geschehn,
ich könnt' ihn sterben sehn und lachen drob“42.
Der Tötungswunsch ist evident. Die tiefe Entfremdung der beiden Partner ist Ergebnis des ursprünglichen Gewaltverhältnisses, das in den Tod des Anderen mündet und darin endet. Sich selbst charakterisiert Medea bezeichnenderweise im Sprachgestus der verinnerlichten Rollenzuweisungen so: „ich bin ein entsetzlich, greulich Wesen, / Mir selbst ein Abgrund und ein Schreckensbild“43. GrillparzersGrillparzer, Franz Anliegen in der MedeaMedea gilt nicht mehr Männertaten, sondern einem weiblichen Täterprofil. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu den beiden ersten Teilen der Trilogie. So erklärt sich auch die oft beklagte Handlungsarmut dieses Stücks, denn eine Handlung im herkömmlichen Sinn gibt es nicht mehr, die Männertaten der ersten beiden Teile der Trilogie sind vorbei, sie kehren allenfalls im retrospektiven Gespräch wieder. Nun geht es allein um die psychische Entwicklung der Frau Medea hin zur Tat, also um die Motivierung ihres tragischen Handelns. Im vierten Akt wird der Tötungsimpuls von Medea selbst verbalisiert. Auf die Frage Goras, was Medea tun wolle, gibt sie die klare Antwort, „laß sie mich töten“44. Danach fällt der klassische Satz „Medea bin ich wieder“.45 Medea hat ihre ursprüngliche Identität wiedergefunden, allerdings zum Preis der Auslöschung der gemeinsamen Geschichte mit Jason und ihren Kindern. Grillparzers Medea ist ein Text über die Tragödie der wortlosen Kommunikation. Kulturelle Kommunikationslosigkeit und geschlechterdifferenteGeschlechterdifferenz Wortlosigkeit zeitigen im Ergebnis das, wogegen sich die Arbeit der AufklärungAufklärung gewandt hat: die individuelle und politische Katastrophe. Grillparzer bringt dies in einem Epigramm aus dem Jahre 1848 auf den Punkt:
„Der Weg der neuern Bildung geht
Von Humanität
Durch Nationalität
Zur Bestialität“46.
In der Schlussszene des Stücks wird dieses exemplarische aneinander Vorbeireden deutlich.47 Grillparzers Medea ist also nicht die Frau, als die sie einmal beschrieben wurde, ein „braves Weibchen romantischen Geblüts, ein Pusselchen, deren Einfalt noch von ihrer Tugend übertroffen wird“48. GrillparzerGrillparzer, Franz entwickelt vielmehr in analytischer Beispielhaftigkeit die vielschichtigen Gründe für Medeas Tat.49 Diese betreffen das sprachliche und psychische Gewaltverhältnis zwischen Jason und Medea, die Muttersubstitution (durch Kreusa), die Partnersubstitution (ebenfalls durch Kreusa), die Erfahrung der sozialen oder kulturellen Andersheit, den Verlust personaler Identität und die Erfahrung diverser Trennungstraumata. Dies sind insgesamt Handlungsgründe und Tatmotive, die sich auch in den historischen und protokollierten Kindsmordprozessen erkennen lassen. Besonders den Aspekt der Partnersubstitution nimmt schließlich CsokorCsokor, Franz Theodor als tatauslösendes Motiv in seine Medea postbellicaMedea postbellica auf. Eigenständige Medea -Adaptionen gab es im 19. Jahrhundert keine mehr. Erst 1926 erschien von Hans Henny JahnnJahnn, Hans Henny sein Medea -Drama in Versen, dem 1924 eine Prosafassung vorangegangen war.50 Ob Csokor es gekannt hat, ist unklar. Durch die Wahl des elegischen Tons, des Blankverses und der willentlich bemühten anachronistischen Wörter schafft Jahnn in seinem Stück eine deutliche Distanz zwischen Lesenden und Text. Medea wird von Jahnn als „Negerin“ schon im Personenverzeichnis vorgestellt. Damit bemüht der Autor plakativ das Motiv der Fremdheit, das sich in Kreons Aussage „Ausländer mag ich nicht“51 erschöpft. JahnnJahnn, Hans Henny lässt Medea sagen, „ich warte auf den Ablauf des Geschicks“52. Der Autor propagiert eine Rückkehr zum Mythos, obwohl er die Handlung seines Stücks als „ganz gegenwärtig“53 verstanden wissen will. Mit seiner MedeaMedea wird deutlich, dass sich im 20. Jahrhundert das Kindsmordthema und das Medea-Thema weit voneinander entfernt haben.
„Medea ist schon lange tot“,54 wurde 1972 behauptet. Doch für die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts kann eine auffällige Häufung von Medea-Texten in der Literatur beobachtet werden, die von Frauen geschrieben wurden und mit großer Emphase die Identifikation mit der Medea-Figur trotz oder gerade wegen des Kindsmords vortrugen. Dies ist nicht nur auf die deutschsprachige Literatur begrenzt, wie Beispiele aus der italienischen, englischen, amerikanischen und französischen Literatur zeigen.55 Der Identifikation mit der Medea-Figur geht dabei stets eine intensive Auseinandersetzung mit der Medea des EuripidesEuripides voraus. Ob man angesichts der Häufung von Medea-Texten in der deutschsprachigen Literatur allerdings von einem regelrechten „Medea-Boom“56 sprechen kann, sei dahingestellt. Mit Blick auf die Literatur des 20. Jahrhunderts müssten das MedeaspielMedeaspiel und das MedeamaterialMedeamaterial von Heiner MüllerMüller, Heiner, TurrinisTurrini, Peter Kindsmord , die Medeen von Dagmar NickNick, Dagmar, Christa WolfWolf, Christa, Andreas StaudingerStaudinger, Andreas und Dea LoherLoher, Dea ausführlich genannt werden. Doch lässt allein schon diese Aufzählung deutlich werden, Medea ist in der zeitgenössischen Literatur gegenwärtig, Medea bleibtMedea bleibt (1998), so der Titel eines Dramas von Gerlind ReinshagenReinshagen, Gerlind.57 Allerdings werden Fremdheit und Alteritätserfahrung zu einem zunehmend wichtigeren Handlungsmotiv. Am Thema Kindsmord sind diese Autorinnen und Autoren nicht mehr interessiert. Dies kann als Indiz gewertet werden, dass am Beginn des 21. Jahrhunderts Medea mehr und mehr als Leitfigur kultureller Fremdheitserfahrung und nicht mehr als Kindsmörderin verstanden wird. Obwohl Kindsmord, wie die Untersuchung von Annegret Wiese zeigte, als Verbrechen keineswegs weniger aktuell ist, hat sich des Themas wieder die Fachwissenschaft bemächtigt. Die Medea-Frau hingegen ist in der Gegenwart die Fremde geworden, der Kindsmord als kulturgeschichtlicheskulturgeschichtlich Thema ist von ihr abgespalten. CsokorsCsokor, Franz Theodor Medea postbellicaMedea postbellica gehört so gesehen zu den frühen Medea -Texten, die diesen historischen Prozess dokumentieren. Csokor stellt in seinem Stück eine Zeitlosigkeit her, indem er im Vorspiel die beiden Hauptakteure, die Partisanenkämpferin und Ärztin Anna und den Offizier Peter Masken tragen und als Medea und Jason sprechen lässt. Im Unterschied aber zur Tradition der meisten Medea -Dramen, spielt bei Csokor der Kindsmord und damit die Bestrafungs- und Rachefantasien Medeas keine Rolle, Marwoods Gewaltfantasma wiederholt sich nicht. Medea ist in CsokorsCsokor, Franz Theodor Stück schwanger und erwägt eine Abtreibung, vom Ende des Textes her gesehen bleibt aber offen, ob sie diese auch tatsächlich vornimmt. Csokor geht damit einen anderen Weg als später etwa Ursula HaasHaas, Ursula, deren Freispruch für MedeaFreispruch für Medea (1987) eine ausschließliche Abtreibungserzählung darstellt, und verlagert damit das Gewicht des Medea-Themas auf die Auslöschung der Rivalin. Dora, die Peter verführt und für sich gewinnen kann, erhält von Anna einen Schal, der von der Leprakranken Zoe zurückgelassen wurde, und infiziert sich dadurch selbst mit Lepra. Der Tod der neuen Geliebten ihres Partners ist die Bestrafung für dessen Untreue und Verlust. Während das Vorspiel noch in Blankversen und freien Rhythmen verfasst ist und auch durch diese gewählt lyrische Sprechform die Anbindung an die klassische Vers- und Dramensprache sucht, sind die fünf Akte des Stücks in der Sprache moderner Prosa gehalten.58 Weder neoromantischeRomantik noch expressionistischeExpressionismus Spuren lassen sich hier finden, im Gegenteil, die Verknappung der Sprache auf den verhandelten Inhalt unterstreicht die Sachlichkeit des Textes. Der mythologische Rollenkonflikt zwischen Jason und Medea wird bei CsokorCsokor, Franz Theodor als ein Geschlechterkonflikt vorgetragen, dem Schicksalhaftes eignet und der daher nicht vermieden werden kann. Der Kampf für eine bessere, und das heißt in der Lesart des Stücks sozialistische Welt, erlaubt auch die Ermordung derer, die dem entgegenstehen, wobei die Frauen aus tiefer idealistischer Überzeugung handeln, die Männer hingegen verstrickt bleiben in Strategien der Macht. Der Titel selbst gibt die zeitgenössische Referenz her, von den faschistischen Feinden, von Gaskammern ist die Rede und der Hinweis zu Beginn des Dramas, dass das Stück vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach auf dem griechischen Balkan spiele, machen die Medea postbellicaMedea postbellica zu einem politischen Zeitstück, das seinen Weg auf die Nachkriegsbühnen allerdings nie gefunden hat. Letztlich aber bleibt Csokors Medea auch ein Stück über die verlorene Liebe, wenn der Chor der Männer und Frauen Medeas Worte aus dem Vorspiel am Ende des fünften Aktes wiederholt:
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