Schubart war weder ein Volksdichter noch ein Rebell, auch wenn dieser Habitus zur eigenen Inszenierung passte und bis heute in der Germanistik gerne als Ursprungsmythos eines politischen Sturm und Drang in Deutschland in Anspruch genommen wird. Ob insgesamt sein politisch kritisches Werk für eine wie auch immer geartete politische Tendenz des Sturm und Drang überhaupt zu Recht herhalten kann, bleibt umstritten.4 Demgegenüber steht ein nicht unbeträchtlicher Teil seines lyrischen Werks, das sich in Huldigungs- und Widmungs- und Gelegenheitsgedichten, in Idyllen und in dynastischer Lobhudelei ergeht. Das Schicksal, ins Repertoire bürgerlicher KulturKultur aufgenommen worden zu sein, teilt Schubart mit SchillerSchiller, Friedrich.
Im Jahr 1781 lernt Friedrich Schiller neben Andreas StreicherStreicher, Andreas (1761–1833), der ihn nach Mannheim und Frankfurt auf der Flucht aus Stuttgart begleitete, eben auch Christian Friedrich Daniel Schubart kennen. Wie Schubart ist auch der junge Schiller als Publizist aktiv, so gründet er im März 1782 zusammen mit Jakob Friedrich Abel (1751–1829), Johann Jakob AtzelAtzel, Johann Jakob (1754–1816) und Johann Wilhelm PetersenPetersen, Johann Wilhelm (1758–1815) seine erste Zeitschrift Wirtembergisches Repertorium der LitteraturWirtembergisches Repertorium der Litteratur . Sie erscheint allerdings nur in drei Stücken ein knappes Jahr lang bis Frühjahr 1783. Die meisten Beiträge stammen von den Herausgebern selbst. Und wie Schubart macht auch Schiller früh seine prägenden Erfahrungen mit dem duodezfürstlichen Absolutismus. Die erste literarische Reaktion darauf findet sich in den RäubernDie Räuber , die bis Ende 1780 fertig waren. SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel Erzählung Zur Geschichte des menschlichen HerzensZur Geschichte des menschlichen Herzens , auf die sich SchillerSchiller, Friedrich bei der Entwicklung seiner Räuber -Fabel maßgeblich stützt, erschien im Januar 1775 im Schwäbischen Magazin von gelehrten Sachen auf das Jahr 1775 .5 Schiller hat sie gekannt und für seine Räuber ausgewertet. Einige Übereinstimmungen sind bemerkenswert. In Schubarts Erzählung heißen die beiden Brüder Wilhelm und Carl. Während Wilhelm den scheinbar moralischen, in Wahrheit aber schlechten Charakter verkörpert, entwickelt sich Carl vom Lebemann zum wiederkehrenden verlorenen Sohn. In der Geschichte des menschlichen Herzens wird Wilhelm als fromm, geradezu bigott, zelotisch, misanthropisch, ordnungsliebend und wirtschaftlich denkend beschrieben. Carl hingegen ist der Antipode seines Bruders, beide sind aristokratischer Abstammung. Wein, Sex, Schulden, schließlich ein Duell und seine Flucht zum Militär lassen ihn eine adlige oder bürgerliche Karriere verfehlen. Er landet als Knecht bei einem Bauern in der Nähe seines Vaterhauses. Seine Briefe an den Vater, worin er um Vergebung bittet, werden vom Bruder unterschlagen. Als dieser einen Mordanschlag auf den Vater einfädelt, kann Carl das Leben des Vaters retten und wird schließlich als verlorener Sohn wieder aufgenommen. Wilhelm hingegen gründet eine Sekte der Zeloten. Bemerkenswert ist die Schlussformulierung Schubarts: „Wann wird einmal der Philosoph auftretten, der sich in die Tiefen des menschlichen Herzens hinabläßt, jeder Handlung bis zur Empfängniß nachspührt, jeden Winkelzug bemerkt, und alsdann eine Geschichte des menschlichen Herzens schreibt, worinn er das trügerische Inkarnat vom Antlize des Heuchlers hinweg wischt, und gegen ihn die Rechte des offenen Herzens behauptet.“6 Kein Philosoph wird es sein, sondern ein junger Dichter, der diesem Anspruch genügt. Man ist geneigt, Schillers Bemerkungen in seiner Unterdrückten VorredeUnterdrückte Vorrede zu den Räubern als direkte Antwort auf Schubarts Frage zu lesen. Schubarts Erzählung spielt – wie Schillers Räuber – in den Zeiten des Siebenjährigen Kriegs (1756–1763). Die Absicht des Autors Schubart besteht darin, „Leute mit Leidenschaften“7 zu zeichnen, die es auch in Deutschland gebe. Der Deutschen Leben bestehe nicht nur aus „Essen, Trinken, Dummarbeiten und Schlafen“8, so SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel. Ausdrücklich fordert Schubart die Dichter seiner Zeit auf, den von ihm mitgeteilten Stoff dramatisch oder episch zu bearbeiten. Er schreibt: „Hier ist ein Geschichtgen, das sich mitten unter uns zugetragen hat; und ich gebe es einem Genie Preiß, eine Comödie oder einen Roman daraus zu machen, wann er nur nicht aus Zaghaftigkeit die Scene in Spanien und Griechenland; sondern auf teutschem Grund und Boden eröfnet“9. Schwer vorzustellen, dass sich der junge SchillerSchiller, Friedrich von diesen Worten nicht angesprochen gefühlt haben mag.
Anfang Dezember 1788 besuchte der Sohn Ludwig SchubartSchubart, Ludwig Albrecht Schiller in Weimar. Unmittelbar danach schrieb Schiller die kleine Erzählung Spiel des SchicksalsSpiel des Schicksals nieder, die 1789 erschien und die in der Schiller-Rezeption nahezu untergegangen ist. Der Ich-Erzähler weist explizit darauf hin, dass er von dieser Person nur aus „mündlichen Überlieferungen“10 wisse, gedruckte Quellen also auszuschließen seien. Dies ist eine geschickt gelegte blinde Spur des Autors, ermöglicht sie ihm doch gegebenenfalls, auf den Charakter des Mündlichen als einer ungesicherten Überlieferung und nicht wahrheitsgetreuen Darstellung zu verweisen und somit den Wahrheitsanspruch seiner Erzählung der Kritik zu entziehen. Immerhin war es für die zeitgenössischen Leser ein Leichtes, die erzählte Geschichte nahezu auf jeden beliebigen Fürstenhof der Duodezfürstentümer im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu übertragen. Günstlingswirtschaft, Fürstenwillkür und Machtmissbrauch sind auch die Themen der Erzählung, die ja in nahezu allen Texten des jungen Schiller vorzufinden sind. Unausgesprochen steht bei dieser Erzählung wieder die Situation am württembergischen Hof des Herzogs Karl EugenKarl Eugen, Herzog von Württemberg im Hintergrund. Obwohl es keinen Beleg dafür gibt, dass Schiller mit Bedacht auf einen realen historischen Vorfall zurückgreift, geht die Forschung davon aus, dass in der Erzählfigur des Aloysius von G*** Schillers Taufpate General Philipp Friedrich RiegerRieger, Philipp Friedrich (1722–1782) zu erkennen ist. Zunächst Günstling des Herzogs, dann durch eine Intrige gestürzt, wurde Rieger aus dem Militärdienst entlassen und verbrachte vier Jahre in Haft. Nach seiner Rehabilitierung war er von 1776 bis zu seinem Tod Kommandant auf dem Hohenasperg und damit auch für den seit 1777 inhaftierten SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel verantwortlich.11 Auch er war während seiner eigenen Haftzeit zum Pietisten und KirchenlieddichterKirchenlied konvertiert und versuchte Schubart nun (erfolgreich) zur moralischen Bekehrung zu drängen. Am 15. Mai 1782 war RiegerRieger, Philipp Friedrich gestorben, und Schubart vergab ihm großzügig seine Schikanen, konnte aber in einem Brief an seine Frau HelenaRieger, Helena vom Juni 1782 nicht unerwähnt lassen: „Ich habe bei dem vorigen Kommandanten [Rieger] viel schwere Leiden ausgestanden. Er behandelte die Menschen nicht selten wie Bestien“12. Friedrich Schiller – über den es in dem nämlichen Brief heißt: „Schiller ist ein grosser Kerl – ich lieb’ ihn heiß – grüß ihn!“13 – verfasste im Auftrag der württembergischen Generalität eine Trauerode mit dem Titel Todenfeyer am Grabe Philipp Friderich von RiegersTodenfeyer am Grabe Philipp Friderich von Riegers (1782). Auch Schubart besang in einem Gedicht den verstorbenen Festungskommandanten. Ein halbes Jahr vor Schillers Gedicht noch wurde in der Anthologie auf das Jahr 1782Anthologie auf das Jahr 1782 der Geburtstag Riegers mit dem Gedicht Gefühl am ersten Oktober 1781Gefühl am ersten Oktober 1781 gefeiert, das Schubart zugeschrieben wird. Allerdings klingen einige Zeilen darin eher ironisch als aufrichtig, wenn beispielsweise die Vielzahl der Freunde Riegers, die ihn liebten, förmlich beschworen wird. Denn Rieger war für seine Unmenschlichkeit bekannt. Nicht minder unmenschlich ist die Willkür des württembergischen Herzogs zu nennen. Die zehn Jahre Haftzeit Schubarts von 1777 bis 1787 begründete Karl EugenEugen, Karl offiziell damit, „Schubart habe es ‚in der Unverschämtheit so weit gebracht, daß fast kein gekröntes Haupt und kein Fürst auf dem Erdboden ist, so nicht von ihm in seinen herausgegebenen Schriften aufs freventlichste angetastet worden‘“14.
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