Man muss es also deutlich sagen, wenn es um die Geschichte der deutschsprachigen Lyrik im 18. Jahrhundert geht, wird ein Name nie genannt, Johann Heinrich Merck. Über ihn als einen Lyriker zu sprechen bedeutet daher, sich einer poetischen Produktivkraft zu erinnern, die es erst freizulegen gilt. Wenn wir uns über Mercks Lyrik verständigen, müssen wir zwischen drei kleinsten Werkgruppen unterscheiden. Da sind zunächst die Fabeln zu nennen, dann die empfindsamenEmpfindsamkeit oder die lyrischen Gedichte (einschließlich der sogenannten Kasuallyrik) und schließlich die Satiren.14 Nach Arthur Henkel sind die Fabeln „wohl vor 1770“ (W, S. 633) entstanden. Hermann Bräuning-Oktavio datiert sogar genauer zwischen 1760 und 1770,15 doch gibt es für eine verlässliche Datierung keine Anhaltspunkte. Einige der Fabeln wurden im Göttinger Musenalmanach 1770 , andere erst später von dem Merck-Forscher und Merck-Editor Karl Wagner 1835 oder sogar erst 1962 durch Bräuning-Oktavio zum Druck befördert. Die lyrischen Gedichte sind überwiegend in der Zeit Anfang der 1770er-Jahre geschrieben worden, Bräuning-Oktavio datiert die meisten dieser insgesamt 27 Gedichte hingegen auf das Jahr 1771.16 Doch ist das nicht mehr als ein Mittelwert, da er an anderer Stelle die Jahre 1770 bis 1772 als Entstehungszeitraum angibt.17 Die meisten davon wurden in zeitgenössischen Zeitschriften auch gedruckt. Spät, im November 1778, wird MerckMerck, Johann Heinrich WielandWieland, Christoph Martin für dessen Teutschen Merkur ein Gedicht schicken, das vorgeblich von einem Fräulein geschrieben sein soll. Im Merkur wurde es nicht gedruckt, und ob Mercks Angabe richtig war, lässt sich nicht mehr feststellen. Schwer jedenfalls ist es sich vorzustellen, dass Merck sieben Jahre nach dem Ende seiner empfindsamenEmpfindsamkeit Phase nochmals ein Gedicht aus jener Zeit hervorholt und es Wieland zum Druck anbietet. Die Schottischen LiederSchottische Lieder , die zu den lyrischen Gedichten gerechnet werden, sind Übersetzungen Mercks aus dem Englischen und wurden 1776 veröffentlicht. Zu den Verssatiren gehören schließlich insgesamt drei Texte in Reimform: die Rhapsodie von Johann Heinrich Reimhardt, dem JüngerenRhapsodie von Johann Heinrich Reimhardt, dem Jüngeren (1773), eine „burleske Prosodie in Knittelversen“,18 Pätus und Arria. Eine Künstler-RomanzePätus und Arria (1775) und die Matinée eines RecensentenMatinée eines Recensenten , die zwar schon 1776 an WielandWieland, Christoph Martin geschickt, aber erst 1838 durch Wagner veröffentlicht wurde. Aus der Zeit nach 1776 liegen kein Gedicht, kein einzelner Vers, keine Satire und keine Fabel von Mercks Hand vor. Das wirft natürlich die Frage auf, weshalb Merck, der von der Forschung treffend als „Autor der Diskontinuität“19 beschrieben wurde, nahezu plötzlich seine lyrische Produktion abbricht. Ein kleiner historischer Exkurs erlaubt eine Annäherung an die Antwort auf diese Frage. Dass Literatur gefährlich, genauer, dass ein Bürgerliches TrauerspielBürgerliches Trauerspiel und mithin der Umgang mit Literatur bisweilen tödlich enden kann, zeigt das Ende des 78-jährigen hessischen Landgrafen Ludwig VIII., der während einer Theateraufführung tot zusammenbrach. Am 17. Oktober 1768 gab die Leppertsche Gesellschaft von George LilloLillo, George den Kaufmann von LondonDer Kaufmann von London auf dem Darmstädter Hoftheater. Von Charlotte BuffBuff, Charlotte erfahren wir Genaueres:
„Es rührte ihn [den Landgrafen] sehr, wie natürlich und ihm gewöhnlich; er fand es schön, erwähnte gegen den Prinzen George die darin steckende Moralen und bemerkte die guten Stellen; er klatschte in die Hände, und plötzlich sank er tot, unter einem Bravo! in die Arme des Prinzen George. […] Die jetzige Frau Landgräfin […] hat das Comödien-Haus zunageln lassen, wie es heisst, und will nie wieder Comödien in Darmstadt spielen lassen“20.
Vielleicht liegt die historische Lehre dieses Vorfalls darin, dass es ein Adliger war, der ein Bürgerliches TrauerspielBürgerliches Trauerspiel gesehen hat und dabei einen Schlaganfall erlitt. Die Fabeltheoretiker nennen dies Fabula docet, also das Epimythion, die Moral der Geschicht, und dem späten MerckMerck, Johann Heinrich, dem Sympathisanten der Französischen RevolutionFranzösische Revolution, hätte dieser Vorfall, hätte er sich 1790 ereignet, sicherlich einige beißende Bemerkungen entlockt. Denn wie kritisch Merck Despotismus, Günstlingswirtschaft und Hofschranzentum gegenüber eingestellt war, belegen über die Jahre hinweg die Fabeln, zahlreiche einschlägige Briefstellen und Bemerkungen in seinen Prosaschriften.
Betrachten wir uns nun etwas genauer das Fabel-Werk und bleiben wir gleich bei diesem ersten Aspekt, der politischen Dimension von Mercks Fabel-Dichtung. Nicht die Form dieser Fabeln, sondern der Inhalt, also Mercks Gedanken „zu ethischen und sozialen Fragen“21 seien das eigentlich Interessante an diesen Gedichten, meinte Bräuning-Oktavio. Andere hingegen sahen in den Fabeln mehr oder weniger unbedeutende Jugendarbeiten. „Mehr als Gebrauchs- und Unterhaltungslektüre für den Geschmack des Tages“ (W, S. 33) seien sie schon damals nicht gewesen, sie erhöben sich nirgends über die zeitgenössische Bildungs- und handwerkliche Kunstfertigkeit, meinte Peter Berglar in seiner Einleitung zur Werkausgabe von 1968.
Merck bietet Höpfner am 16. November 1769 einige seiner Fabeln zum Druck an, fünf werden im Göttinger Musen - Almanach 1770 veröffentlicht.
„Ob Sie meine Fabeln in den Almanach sollen druken lassen? – Sie können sich doch vorstellen daß ein Bettler wegen seines schlechten Rocks nicht darf besorgt seyn, wenn man ihn dem Volck unter einer Versammlung reichgekleideter Männer zeigt – Es wird sich niemand über ihn aufhalten, weil niemand auf ihn Achtung giebt, und so kommt er doch mit Ehre zum Thor hinaus. Machen Sie mit was Sie wollen, schneiden Sie ab, setzen Sie zu, nehmen Sie was Sie wollen, aber setzen Sie nur meinen Namen unter nichts“ (Br, S. 33).
Merck bedient sich vorwiegend der Tradition der Tierfabeln, so finden sich in dieser Werkgruppe Titel wie Der Hahn und der Fuchs , Der sanftmüthige Wolf , Der Esel und das Pferd , Der Hahn und das Pferd , Der Adler und die Taube usf. Daneben greift MerckMerck, Johann Heinrich auch auf mythologische und historische Themen zurück, wie beispielsweise Sokrates, und Antisthenes , Der Gott Merkur und Amor , Prometheus und Jupiter , Pyrrhus und Xerxes . Mercks Fabeln sind Lehrfabeln, ohne dass sie sich in einem Tugendmoralismus erschöpfen. In dem Gedicht Der Mönch und die Junge FrauDer Mönch und die Junge Frau , worin der Geistliche seine Worte so verdreht, dass seine Verführungsabsichten camoufliert werden, ist weniger die Handlungsintention des Mönchs entscheidend als vielmehr die diskursive Gewalt, die er gegenüber der unwilligen, weil unverständigen Frau aufbringt. Am Ende spricht das lyrische Ich – und wir können darin durchaus den Autor selbst erkennen:
„So sieht ein jeder das, was er zu sehen hofft,
Und so betrügen wir uns offt.
So geht die Wahrheit stets verlohren,
Zwey Critiker beweisen, schimpfen sich,
Ein Jeder glaubt: die Wahrheit nur seh ich.
Und ich, ich seh zwey Thoren“ (W, S. 54).
Der politische Inhalt der meisten von Mercks Fabeln ist evident. Ich will in diesem Zusammenhang nur an zwei Äußerungen Mercks erinnern. Einmal verwendet er den Begriff der „KönigsSau“ (Br, S. 150), um den landgräflichen Autokraten zu kennzeichnen. Und zum zweiten notiert Merck nach dem Tod der Landgräfin, der Ton sei nun abscheulich geworden, das ganze Land seufze unter dem „Despotismus“ (Br, S. 157) des Landesherrn und seiner Vasallen. Mehr denn je ist Merck nun, 1777, darauf angewiesen, Kontakt mit Freunden brieflich herzustellen und zu pflegen (vgl. Br, S. 159). Fremde beträten kaum mehr Darmstädter Boden. „Ich bin hier in der hundetummsten Gesellschafft, u. höre das Jahr durch kein Wort, das mich freut. Es ist also kein Wunder, wenn ich ganz u. gar versaure“ (Br, S. 200f.), klagt er in einem Brief an Wieland vom 7. November 1778. Darmstadt nennt er gar den Lumpenort, er spricht von der elenden Lage „unsers lieben Örtgens […], wo man nichts als dummes Zeug sieht u. hört“ (Br, S. 207).
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