Dreimal führt Prometheus den Hinweis auf die Kindheit an. In der ersten Strophe fordert er in einem Lebensalter-Vergleich Zeus auf, „Knabengleich“ (V. 3) das Köpfen von Eichen und Bergspitzen zu üben; in der dritten Strophe sind es unter anderem die Kinder, welche die Allmacht und „Majestät“ (V. 17) der Götter sichern helfen; und in der vierten Strophe verweist Prometheus auf seine eigene Kindheit, die Erfahrung von Zeus‘ Untätigkeit, als er Hilfe brauchte, lehrt ihn den Betrug (vgl. V. 34), der an den Gläubigen begangen wird. Den „Schlafenden“ (V. 35) nennt Prometheus Zeus, der sich um die Geschicke und Nöte der Halbgötter oder der Menschen nicht kümmert. Die Formulierung „Als ich ein Kind war“ (V. 20) lässt an 1. Korinther 13, 11 denken: „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind“30 und eröffnet damit förmlich eine Reihung von Bibelzitaten und Anspielungen auf biblisch-theologische Redemuster. Diese Hinweise auf die Kindheit sind insofern wichtig, als sie eine Entwicklung hin zur Rebellion unterstreichen, die ihren Ursprung in der maßlosen Enttäuschung hat, Zeus als schwachen, nicht helfenden und hilflosen Gott erfahren zu haben. Prometheus handelt also nicht im Affekt, wenn er sich von der Welt der Götter abkehrt, sondern planmäßig, aufgrund lang andauernder Erfahrung und Selbstbeobachtung.
Fast schon biblisch ist die Klage zu nennen, die Prometheus in der vierten Strophe vorträgt. GoetheGoethe, Johann Wolfgang kombiniert hier die theologischen Topoi der Klage mit Prometheus‘ Selbstbefund. „Ein Ohr zu hören“ (V. 24) verweist auf Matthäus 11, 15, wo es heißt: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Die in den Befehl ausgewichene Bitte „Herr, neige deine Ohren und höre!“ (2 Kön 19, 16) ist in dieser Strophe ebenso gegenwärtig wie der konterkarierte Psalmist „Laß deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens“ (Ps 130, 2). Das Wort „Klage“ (V. 24) selbst ist weniger dem Sprachschatz des Juristen Goethe entnommen – wie dies in anderem Zusammenhang für das Gedicht Willkomm und AbschiedWillkomm und Abschied nachgewiesen werden konnte –, als vielmehr dem zeitgenössischen biblisch-protestantischen Wissen. Schließlich ist die Herkunft des Wortes „Herz“ (V. 25) aus dem theologischen Begriffsinventar, das ja von zentraler Bedeutung für die Sprachhandlungen und die Ästhetik der empfindsamenEmpfindsamkeit Literatur ebenso wie des Sturm und DrangSturm und Drang ist, hervorzuheben. Auch hier liegen natürlich die Ursprünge im Bibelwort selbst. Das „bedrängte“, das „zerbrochene Herz“ und das „reine Herz“ des Menschen gehören zu den elementaren Theologumena biblischer Tradition. Goethes Gedicht spielt also förmlich mit den Mustern religiöser Sinnverständigung.
Der Begriff des „bedrängten“ (V. 26), als den sich PrometheusPrometheus selbst sieht, impliziert aber auch die Ambivalenz des Begriffs Sturm und Drang, wonach der Drang nicht nur das Intentionale des subjektiven Handelns bezeichnet, sondern eben auch jenen Drang meint, der sich zum Objekt das selbsttätige Individuum wählt und dann als Bedrängnis erfahren wird. Ab Vers 27 trägt Prometheus denn auch konsequent das Programm des Selbsthelfertums vor. Diese vierte Strophe erweist sich somit als die, von Form und Inhalt her gesehen, traditionellste Strophe innerhalb des Gedichts. Das fällt umso mehr auf, sind doch die anderen Strophen durchaus kühn in Konstruktion und Sprachmächtigkeit. Dies zeigt einen Wendepunkt im Gedicht an, Prometheus verabschiedet sich hier endgültig von seiner Herkunft oder allgemeiner von der Tradition. Die Klage wird nun gewendet in ein Programm, aus der Enttäuschung wird Kraft zum Handeln. Am Anfang des Gedichts steht die tränengleiche Klage, am Ende exponiert Goethe Prometheus’ Hinweis, ein Geschlecht wie er selbst geschaffen zu haben, das fähig ist zu „genießen“ und sich zu „freuen“ (V. 54). Das Gedicht spielt an dieser Stelle mit der biblischen Verheißung: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“ (Ps 126, 5). Aus dem bedrängten Herzen wird in der fünften Strophe nun das „Heilig glühend Herz“ (V. 32), das mit allen Attributen eines autonomen Individuums ausgestattet wird; es ist jung, gut, dankbar, es bringt zu Ende, was anderweitig und von anderen nicht mehr getan wird, es glüht und ist heilig. Die Frage aber bleibt, gleichsam jenseits der mythologischen Genealogie: Wer sind die Götter?
Die sechste Strophe bringt die eigentliche Rebellion. Die Fragekette der fünften Strophe geht nun über in eine Anklage. Vorwurfsvoll wird der Ton. Nicht die Götter haben PrometheusPrometheus erwachsen gemacht, sondern die Zeit hat das getan. Prometheus ist erwachsen (V. 42: „die allmächtige Zeit“) und hart geworden (V. 41: „zum Manne geschmiedet“, bereits die Metapher signalisiert die Anstrengung und Gewalt, die nötig waren, um aus Prometheus das zu machen, was er geworden ist). Auch Zeus selbst muss sich letztlich der Herrschaft der Zeit unterwerfen. Schonungslos deckt damit Prometheus auf, dass die Macht der Götter keineswegs allumfassend ist, dass es mächtigere Mächte gibt, nämlich die Zeit und das Schicksal und den rebellierenden Sohn. Prometheus bringt damit einen tragischen Aspekt mit in das Gedicht ein. Dem Schicksal (‚moira‘) vermag sich nach griechischer Auffassung niemand zu entziehen, es ist jene Macht, die einen Geschehensverlauf als tragischen bestimmt, wenn es kein Entrinnen und keine Entscheidungsalternativen gibt. Gleichgültig, wie sich der Held verhält, das Geschehen endet stets tragisch. Dargestellt wurde dieser Schicksalsmechanismus in der griechischen Tragödie.
Die Schlussstrophe in GoethesGoethe, Johann Wolfgang Gedicht bringt aber den eigentlichen Unterschied zur Tragödie. Das Gedicht endet nicht tragisch, sondern programmatisch. Prometheus ist kein Suchender, anders als FaustFaust, Johannes (Georg) sucht er nicht nach Erkenntnis. Prometheus ist entschlossen, er hat eine Entscheidung bereits getroffen und befindet sich dabei zu handeln. Prometheus handelt, denn er formt Menschen nach seinem Bild. Auch dies ist eine beziehungsreiche Anspielung auf den biblischen Schöpfungsmythos. Das gesamte Gedicht ist so gesehen die Darstellung eines perlokutiven Akts. Es endet mit dem Anspruch von Prometheus, selbst Menschen zu bilden, welche die Autorität des Vaters nicht zu achten brauchen. Darin kann man ein poetologisches Selbstbekenntnis des Autors lesen. Die literarische und ästhetische Selbstständigkeit, die der Sturm und Drang beanspruchte, erfährt hier nochmals bekenntnishaften Ausdruck. Auch führt Goethe die Themen des Selbsthelfertums („Hast du’s nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?“, V. 31f.) sowie der Rebellion gegen die Vaterautorität an, sei sie als ästhetisch-dramatische Norm gedacht, sei sie als religiöse, gesellschaftliche oder als familiale Vaterinstanz erfahren („Ich dich ehren? Wofür?“, V. 36).
Neben dem Verständnis von Prometheus als Sinnbild poetischer Schöpferkraft kann die Berufung auf den Prometheus-Mythos auch den grundsätzlichen Anspruch einer Demokratisierung des Wissens meinen. Dem entspricht im Selbstverständnis des Sturm und Drang die Absicht, Volkslieder zu sammeln. Literatur ist in diesem Sinne allgemein und das heißt für alle da, unabhängig vom Bildungsgrad und unabhängig von Geburts- und Ständeprivilegien. PrometheusPrometheus stiehlt das Feuer und das Wissen ums Feuermachen vom Himmel, er stellt es allen Menschen zur Verfügung. Poesie ist somit nicht länger das „Privaterbteil“31 weniger privilegierter Menschen, wie GoetheGoethe, Johann Wolfgang im zehnten Buch von Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit schreibt. Dieses Verständnis des rebellierenden Göttersohns als Personifikation bürgerlicher Freiheitsrechte wird besonders deutlich bei Gottfried August BürgerBürger, Gottfried August formuliert. In seinem PrometheusPrometheus betitelten Gedicht von 1785 heißt es: „Ist’s weise, daß man dich verdamme, / Gebenedeite Gottesflamme, / Allfreie Denk- und Druckerei?“32 In der Prosaversion wurde Bürger noch deutlicher, mit Blick auf den Flammenraub schrieb er: „Dabei könntest du, Flamme Gottes, Denk- und Preßfreiheit, einem einfallen!“33 Auch Klinger hatte schon in seinem OrpheusOrpheus -Roman (1778/80) gefragt: „Wer kann die Flamme erweken, die Prometheus Fakel in uns anzündete?“34, dabei freilich nicht an die Rede- und Schreibfreiheit gedacht. Vielmehr bleibt im Orpheus offen, ob die Fackel die göttliche Inspiration symbolisiert, prometheusgleich ein Werk zu schaffen, oder ob diese Fackel – was von der Konzeption und vom Inhalt des Romans her gesehen ebenso möglich, möglicherweise wahrscheinlicher ist – im heinseschenHeinse, Wilhelm Sinne als Liebessymbol zu verstehen ist. KlingerKlinger, Friedrich Maximilian würde damit an eine Variante des Prometheus-Mythos angeknüpft haben, die er bereits in seinem Sturm-und-Drang-Sturm und DrangDrama OttoOtto (1775) beiläufig erprobt hatte. Dort sagt der von Eifersucht getriebene Graf Normann: „Und ich fürchte keinen Jupiter, keinen Adler – ich wills ausführen“35. Der Mythos des antiken Selbstretters wird hier mit heftigem Begehren konnotiert. Heinse hatte diesen anderen Deutungshorizont der Prometheus-Gestalt, der auch bei der Betrachtung von Goethes PrometheusPrometheus nicht übersehen werden sollte, in seinem frühen Gedicht Die KirschenDie Kirschen (1773) eröffnet und damit den Mythos als Ausdrucksform eines Begehrensdiskurses nutzbar gemacht. Dort heißt es über die Liebesgeschichte zwischen Lisette und Peter:
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